Welt Online hat geschrieben:NEUE AUSRICHTUNG
St. Paulis Bekenntnis wider den modernen Fußball
Gekaufter Erfolg? Von Großkonzernen abhängige Klubs wie Leipzig, Wolfsburg und Ingolstadt stehen in der Kritik. Der FC St. Pauli geht einen radikal anderen Weg. Vorbild ist ein Berliner Techno-Club.
Das Zitat von Dave Boyle ist etwa zehn Jahre alt, für Sandra Schwedler ist es aktueller denn je: "Wenn du einen Frosch ins Wasser setzt und das Wasser langsam erwärmst, dann stirbt er irgendwann. Wenn du ihn aber in heißes Wasser setzt, springt er heraus."
Schwedler hat einen schleichenden Prozess ausgemacht, und in ihrem Bild ist der Frosch der Fußball. Schwedler ist die neue Aufsichtsratsvorsitzende des Zweitligisten FC St. Pauli. Sie hat sich in den vergangenen Jahren als beharrliche Streiterin für Interessen von Fußballfans einen Namen gemacht, arbeitete für ProFans, Pro 15.30 und Football Supporters Europe. Netzwerke, über die sie auch den britischen Fanrechtler Boyle kennenlernte und den Satz aufschnappte. Er stammt aus einer Zeit, als sich in England das Fußballpublikum deutlich verändert hatte, nachdem in den Stadien Stehplätze abgeschafft, der Alkoholausschank stark eingeschränkt, Vereine von Investoren übernommen und die Preise stetig erhöht worden waren, bis sich nur noch wenige die Tickets leisten konnten.
Schwedler glaubt, dass es zuletzt auch in Fußball-Deutschland wärmer geworden ist: "Immer ein Stückchen mehr Kommerzialisierung, ein Stückchen mehr Änderung. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem viele sagen: Ich gehe jetzt nicht mehr hin. Teilweise gibt es das ja jetzt schon."
Kritik am Kommerz wird lauter
In Zeiten, da der einzige verbliebene Kontrahent des FC Bayern am Tropf von Volkswagen hängt, Red Bull mit seiner Leipziger Fußballsparte am Ende der Zweitligasaison den dritten Aufstieg in Folge begießen will, der aktuelle Tabellenführer im Unterhaus ohne Audi in der Bayernliga spielen würde und Bayer Leverkusen und die TSG Hoffenheim von manchem schon als klassische Traditionsvereine eingeordnet werden, wächst die Zahl der Kritiker und Mahner, die einen Verlust traditioneller Werte und die Überhitzung der Branche erkennen.
Bis zum 16. November des vergangenen Jahres war Schwedler eine von vielen engagierten Kämpfern gegen den ausgemachten Klimawandel. Bis zu dem Tag, an dem sie von den Mitgliedern des Hamburger Zweitligisten FC St. Pauli mit überwältigender Mehrheit in den Aufsichtsrat ihres Klubs gewählt wurde und auf dessen konstituierender Sitzung auch den Vorsitz übernahm.
Begeht der FC St. Pauli sportlichen Selbstmord?
St. Pauli präsentiert sich seitdem als Gegenentwurf. In Zeiten, in denen die Hemmschwelle der Klubs, sich für Investoren zu öffnen, spürbar sinkt, sie in ihren Aktiengesellschaften Anteile offerieren oder mit strategischen Partnern in einer GmbH kooperieren, um sportlich erfolgreich oder überhaupt konkurrenzfähig bleiben zu können, handelt St. Pauli antizyklisch. Es ist ein Bekenntnis wider den modernen Fußball, das es in dieser Deutlichkeit und Konsequenz noch nicht gegeben hat. Einige sagen, der ohnehin schon auf Tabellenplatz 18 der Zweiten Liga abgestürzte Klub habe damit seinen Freitod gewählt und werde zwangsläufig aus dem Profifußball verschwinden. Andere finden, St. Pauli fülle sein Image seit dem November wieder mit Leben. Nicht ausgeschlossen, dass beides richtig ist.
(...)
Göttlich überzeugt St. Paulis Mitglieder
Oke Göttlich grinst bei diesen Sätzen. Ihm gefällt Schwedlers Sichtweise, er teilt viele ihrer Ansichten.
"St. Pauli muss ein unabhängiger Verein bleiben. Das ist das Wichtige", ergänzt er, "bei den ausgegliederten Systemen, die momentan probiert werden, geht häufig die Unabhängigkeit und damit Flexibilität verlustig. Früher gab es das Zeitalter des Mäzenatentums, das abgelöst wurde durch Großsponsoren, die in die Vereinspolitik mit hineingeredet haben. Auch bei St. Pauli war das ja immer mal ein Thema. Wir aber wollen uns diese Unabhängigkeit erhalten, dass wir ein Verein bleiben, der von unseren größten Förderern – unseren Fans und Mitgliedern – geführt wird." Ein Wunsch als Wahlversprechen.
(...)
Eine seiner ersten Dienstreisen führte ihn nach Frankfurt am Main. Wer sich fragte, wo auf der DFL-Versammlung am 4. Dezember die Vertreter des FC St. Pauli Platz genommen hatten, musste nur die Abstimmungen beobachten. Im Meer der grünen Karten, stach an derselben Stelle immer wieder auch mal eine rote heraus. Rot ist ungewöhnlich, Rot bedeutet Nein. Sandra Schwedler nickt: "Viele der kleinen Vereine sind abhängig. Durch das Solidarprinzip bei den Fernsehgeldern haben einige Angst und das Gefühl, so abstimmen zu müssen, wie es von oben erwartet wird." Abnickverhalten bei der DFL? St. Pauli verhielt sich wie ein Geisterfahrer. Wie das schwarze Exemplar einer Schafherde. Oder eben das weiße, allein zwischen schwarzen – je nach Sichtweise.
(...)
Die Fans – ihnen hat es der FC St. Pauli zu verdanken, dass es ihn überhaupt noch gibt. Immer wieder stand der "Chaosklub" in den vergangenen Jahrzehnten vor der Pleite, immer wieder war auf die Treue und Spendenbereitschaft des Anhangs Verlass, nicht nur während der umfangreichen Retter-Kampagne 2003. Die Erinnerung an Regionalligazeiten ist noch frisch. Keine zehn Jahre ist das her.
"In jeder schwierigen Situation haben uns die unterschiedlich aktiven Fans, die 10.000, 20.000, 30.000 Menschen hier im Stadion plus Millionen Sympathisanten unterstützt. Wir müssen aufpassen, dass wir an unseren Kernwerten und einem authentischen Fußball so festhalten, dass diese Leute Fans bleiben. Wir müssen unsere Werte leben."
(...)
Quelle und kompletter Text: http://www.welt.de/sport/article1373012 ... sball.html