Wie in der guten alten Zeit
Die Stuttgarter Profis verspielen eine 3:0-Führung und lernen in Kaiserslautern das „Betze-Feeling“ kennen
KAISERSLAUTERN. Ob ihm nicht alle seiner Spieler glauben wollten, oder ob die Wirklichkeit noch so eindrucksvolle Erzählungen grundsätzlich übertrifft, konnte Jens Keller später nicht klären. „Das hier“, sagte er jedenfalls, „muss man erlebt haben. Vielleicht haben es nicht alle geglaubt.“ Als der Cheftrainer des VfB Stuttgart vom „Betze-Feeling“ erzählte, steckte ihm eine gefühlte Niederlage in den Knochen. Keller war am Samstagnachmittag nach dem 3:3 seiner Mannschaft beim Bundesliga-Aufsteiger 1. FC Kaiserslautern ziemlich enttäuscht, konnte dafür allerdings sicher sein, dass seine Spieler ab sofort wissen, was das besondere Fluidum auf dem Betzenberg ausmacht.
In Kaiserslautern erinnert man sich noch heute gern an die gute alte Zeit, als der Klub seine Gegner mit späten Toren regelmäßig zur Verzweiflung brachte. Der Vorstandsvorsitzende Stefan Kuntz und die PR-Abteilung des FCK garnierten die vergangenen Jahre mit allerlei Kampagnen, die als Hommage an viele kampfstarke Fußballprofis gedacht waren, die einmal das Lauterer Trikot trugen. Ob die furiose Aufholjagd des FCK des Jahres 2010 gegen den VfB Stuttgart dazu taugt, den Mythos wiederzuerwecken, konnte am Abend des gefühlten Sieges keiner sagen. In den Gesichtern derer, die einen aussichtslosen 0:3-Rückstand aufgeholt hatten, ließ sich jedoch ablesen, dass dieser eine Punkt etwas mehr wert sein könnte als sonstige Unentschieden.
Der Kaiserslauterer Trainer Marco Kurz beschwor die „Kraft, die von außen kam“. Auch auf dem Rasen konnte man in den Aktionen der Schwaben sehen, die sich vergeblich mühten, den Vorsprung zu verteidigen, wie sehr die Gesänge aus der Westkurve und „die Leidenschaft pur“ (Kurz) sie beeindruckt hatten. In der Pause hatte Keller versucht, darauf hinzuweisen, was folgen könnte. Als Christian Gentner in der 50. Minute per Foulelfmeter vor 47 000 Zuschauern das 3:0 erzielt hatte, „haben die sich zu sicher gefühlt“ (Keller) und „etwas weniger gemacht“ (Manager Fredi Bobic). Und so geschah, „was nach einem 3:0 nicht passieren darf“ (Torwart Sven Ulreich).
Höchst effektiv hatte der VfB den Vorsprung herausgespielt. Kluge Konterangriffe setzten die Stuttgarter der Pfälzer Leidenschaft entgegen. Ciprian Marica passte auf Arthur Boka, der den Ball über Tobias Sippel hinweg zum 1:0 ins Tor schlenzte (19.). Cacaus 2:0 fiel wieder nach einem Konter (33.) – just als die Pfälzer einen Elfmeter gefordert hatten und die Atmosphäre hitzig zu werden begann. „Einer der beiden berührt mich“, berichtete der gestürzte Christian Tiffert, der von seinen Gegnern Boka und Patrick Funk sprach. „Aber es war außerhalb, also kein Elfer, aber Freistoß.“ Hätte Schiedsrichter Babak Rafati den gegeben, glaubt Tiffert, wäre das 0:2 nie gefallen. Rafati lag wohl richtig, einen Strafstoß zu verweigern, der verwehrte Freistoß blieb ein Streitthema.
Was sich dann in der Kabine des FCK abspielte, muss so eindrucksvoll gewesen sein, dass die Lauterer das dritte Stuttgarter Tor aushielten. „Wir haben uns gesagt, wir verlieren hier auf keinen Fall“, berichtete Oliver Kirch. Man sei nicht schlechter gewesen als der Gegner. Die autosuggestive Kraft zeigte die erhoffte Wirkung. Das 1:3 in der 58. Minute durch den eingewechselten Ilian Micanski nährte die Hoffnungen der Pfälzer, die mit zwei Stürmern den Druck entwickelten, dem die Stuttgarter Abwehr schließlich nicht standhielt.
„Der Wind hat da mitgeholfen“, sagte VfB-Coach Keller über den Treffer, mit dem der FCK die Partie endgültig drehte. Ivo Ilicevics Schuss aus 25 Metern jedenfalls rauschte direkt in den Winkel (76.), was beim Gegner Zweifel auslöste. „Wir haben gezeigt, dass wir noch nicht so weit sind“, sagte Gentner. „Wir hätten heute einen großen Schritt machen können.“ Stattdessen gelang Mathias Abel der 3:3-Ausgleich per Hinterkopfball (78.), und die Stuttgarter mussten von da an bis zur letzten Sekunde zittern. „So ein Erlebnis ist ein Highlight“, sagte Christian Tiffert, der alle drei FCK-Tore vorbereitet hatte. „Aber ich möchte nicht immer 0:3 zurückliegen, bevor wir einen Punkt gewinnen.“
Dass man sich trotz der schönen Erinnerungen selbst beim FCK schwertut, die gute alte Zeit wieder aufleben zu lassen, mussten das Pfälzer Fußballdenkmal Hans-Peter Briegel und der ehemalige Präsident Norbert Thienes (1988 bis 1996) erfahren. Erst als Thienes und Briegel die entscheidende Frage beantworten konnten, durften sie ohne das entsprechende Ticket einen der VIP-Räume betreten, um den früheren Torwart Ronny Hellström zu begrüßen. „Wer sind Sie überhaupt?“ hatte der junge Mann an der Tür gefragt. „Der“, sagte Thienes lächelnd, „weiß nun auch Bescheid.“
OLIVER TRUST
"Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom Montag, 15. November
Publikum verhilft FCK zum Punkt
Das Gefühl des Betzenbergs
Kaiserslautern - Im Grunde ist es egal, ob man ein Spiel von Eintracht Frankfurt oder eines von Eintracht Braunschweig anschaut. Zumindest, wenn man das Geschehen auf den Rängen zum Maßstab nimmt. Beim Tor für die eigene Elf wird es lauter, bei Heimsiegen wird nach Schlusspfiff applaudiert. Und davor singen die Fans meist unabhängig vom Spielgeschehen ihre Liedchen, in denen von unverbrüchlichen Treue und großen Gefühlen die Rede ist.
In Kaiserslautern ist das anders. Dort fühlt sich das ganze Stadion berufen, einen Höllenlärm zu machen, sobald das Geschehen auf dem Rasen danach verlangt. Und eigentlich verlangt es alle zwei Wochen 90 Minuten lang danach. Wer sich am Spieltag außerhalb des Stadions befindet, hört ziemlich gut, ob ein Stürmer eine Chance vergibt oder der Schiedsrichter eine unverschämte Regelauslegung vertritt. Schon als Babak Rafati ein Teenager war, galt der Betzenberg als ungünstiger Arbeitsplatz für Schiedsrichter. Im Alter von 40 Jahren durfte der Fifa-Schiedsrichter aus Hannover nun am eigenen Leibe erfahren, dass die Reizbarkeit des Pfälzer Publikums in der Saison 2010/2011 unverändert hoch ist.
In der 32. Minute verweigerte Rafati dem FCK beim Stand von 0:1 (Tor: Artur Boka, 16.) einen Elfmeter. Im Gegenzug, den Rafati konsequenterweise laufen ließ, erzielte Cacau das 2:0 für den VfB. Spätestens das sorgte dafür, dass sich die gesamte Wut der 46904 Zuschauer auf den braven Mann an der Pfeife richtete. Noch nach dem Schlusspfiff schrieen ihm deshalb Abertausende hinterher, dass der VfB ohne ihn aber auch wirklich nicht die geringste Chance gehabt hätte.
Tatsächlich hatte sich zwischenzeitlich einiges getan. Nach dem 3:0 durch einen ebenso berechtigten wie unpopulären Elfer (Christian Gentner/50.) hatte sich der FCK herangekämpft - und innerhalb von 20 Minuten (Micanski/58., Ilicevic/76., Abel/78.) ausgeglichen. Aufgeholt war damit ein 0:3-Rückstand, der 'psychologisch eigentlich ein Wahnsinn ist', wie Kaiserslauterns Coach Marco Kurz feststellte. Und da der VfB, dessen Spiel im ersten Durchgang sehenswert und effektiv war, in den Schlussminuten doch ganz schön waidwund über den Rasen lief, hatte Lauterns Stürmer Lakic nicht mal unrecht, als er nach dem Schlusspfiff mit dem Schicksal rang: 'Wir waren heute die bessere Mannschaft. Schade, dass es nicht für drei Punkte gereicht hat.'
Anders als einst bei Briegel
Das sah Stuttgarts Manager Fredi Bobic ähnlich: 'Am Ende können wir froh sein, dass wir 3:3 gespielt haben.' Nach der komfortablen Führung habe 'jeder Spieler ein paar Prozent nachgelassen. Und wenn du nur einen Tick weniger machst, rächt sich das sofort'. VfB-Coach Jens Keller fühlte sich an seine Zeit als Spieler erinnert: 'Nach dem 1:3 kam wieder so ein Betzenberg-Feeling auf, das habe ich leider oft genug hier erlebt. Dann sind wir hektisch geworden und haben Fehler gemacht.'
Auch Kellers Kollege Marco Kurz sah das Publikum als einen der spielentscheidenden Faktoren: 'Ich habe in der 70. Minute Spieler gesehen, die unbedingt ausgewechselt werden wollten. Dann kam der Schwung von außen, und sie sind plötzlich wieder gelaufen.' Wichtiger als die Lobpreisung des Publikums war es Kurz aber, ein seit Hans-Peter Briegels Zeiten gängiges Interpretationsmuster zu dementieren. 'Ich höre immer, dass wir eine kampfstarke Mannschaft sind. Ich sehe eine Mannschaft, die Fußball spielt.' Tatsächlich ist das Klischée von den grätschenden Pfälzer Malochern ebenso unausrottbar wie der Glaube an Außerirdische. In der realen Welt ist der FCK den Spitzenteams der Liga spielerisch tatsächlich unterlegen - alles andere wäre bei einem klammen Aufsteiger verwunderlich. Aber er verfügt über ein paar gute Techniker und ein intaktes Kollektiv, das sich seine Offensivaktionen unermüdlich erarbeitet. Und dann wäre da noch der klubeigene Standortvorteil. Schließlich spielt der FCK in einer Stadt, in der nur eine knappe Mehrheit der 99300 Einwohner samstags nicht im Stadion ist.Christoph Ruf
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.264, Montag, den 15. November 2010 , Seite 28
