https://www.youtube.com/watch?v=8AHCfZTRGiI
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Orpheus' letzter Song: Johnny Cash singt "Hurt" und Mark Romanek macht einen Film dazu
VON MARTIN KUSEJ
Es ist immer beunruhigend, wenn Musik mit ihrer Negation operiert - der Nicht-Musik, dem Nicht-Ton. [...] [E]ine Botschaft im Innehalten, im Verweigern, im Enden, im Nichts. Gerade ist eine Lawine zum Stillstand gekommen und eine atemberaubende Tonlosigkeit bricht herein. Das ist das Gefühl am Ende des Videos. Johnny Cash schließt seine Augen und dann sein Klavier, streicht mit seinen alten Fingern über den Deckel, ultimativ - dieselbe Geste machte meine Großmutter kurz vor ihrem Tod immer wieder an Tischkanten, Stoffdecken, Plastiktüten. Etwas schließt sich für immer und es ist gut so. Man streicht es glatt, man streichelt es, Stille. Ahnung von der Ewigkeit. Kurz vorher hatten dieselben Hände noch eruptive Akkorde aus dem Instrument geschlagen, als wollten sie mit jedem Ton ein Bild hervorbringen, eine Geschichte einfangen, das Leben weitertreiben und doch festhalten.
Das Video liefert diese Bilder auch, und sie sind so schnell und so gewaltig, dass man ihnen kaum zu folgen vermag. Auffliegende Vögel, das schmerzverzerrte Gesicht Jesu, eine Lokomotive in voller Fahrt, Augenzwinkern, die schöne, lächelnde, junge Frau in Schwarz-Weiß, der Sänger vor seinem jubelnden Publikum, Sonnenuntergang, ein Wohnmobil auf der Straße, ein Kreuz über einem Tor aus Eisen, Cash am Mikrophon, wieder ein Hammer, der ans Kreuz schlägt, eine Taube über einem Fluss, die alten Finger hämmernd auf den Klaviertasten, Cowboys, Western, Lachen, Lokomotive, Gitterstäbe, (auf jeden Beat ein Bild) - rasend schnell jetzt - Klavier, Gesichter, jung mit Gitarre, Abblende, dann der alte singende Mann... er schließt die Augen und verstummt.
Jetzt ist wirklich alles noch einmal zu sehen, im Unsichtbaren, an den geschlossenen Augen, ein ganzes Leben. Zerrissen, exzentrisch, peinlich, ausschweifend, süchtig, haltlos, dunkel. Einer, der dorthin, in die Dunkelheit des Todes, in die Hölle geht, um mit seiner Gitarre, seiner Stimme, einem Lied nach der Erlösung zu suchen. Seine letzten Worte sind einfach: "If I could start again/ A million miles away/ I would keep myself/ I would find a way." Cash kann das sagen, Cash darf das singen, denn sein Gesicht ist häßlich, zerfressen, gezeichnet, seine Hände zittern, wenn sie Rotwein über den Tisch verschütten, als wollte er damit sein bisheriges Leben wegspülen, wie ein reißender Fluss ein altes Haus zerstört.
Ich mochte Johnny Cash nie wirklich leiden. Zuviel Country-Sound, zuviel Fransen an den Ärmeln, zuviel Amerika. Doch nun, mit diesem Lied, in diesem Video, erscheint er groß, gefasst, prophetisch, pathetisch. Es raubt mir den Atem, und ich kann nicht sagen, dass dies nur auf gute Art und Weise geschieht. Tod, Ruhm, Liebe, Vergänglichkeit, Schmerz, Ruin, Zerstörung, - das sind die Ingredienzen für einen luziden und schonungslosen Abgesang auf die menschliche Seele, ihre Abgründe, und ihre Sehnsüchte.
Johnny Cash irrlichtert zwischen den alten polaroid-gefärbten Aufnahmen aus seiner Jugend und der morbiden Inszenierung dieses letzten Songs herum. Hurt ist ein Lied der Industrial Band "Nine Inch Nails", Cash macht es ganz zu dem seinen, das Lied über die Wahrheit des Schmerzes wird zur Klammer seines Verstummens, seines Todes, und er wird als Künstler zum Schmerzensmann, zu einer Art Erlöser. Zu einem, der nichts weniger versucht, als stellvertretend für uns das Leid der Welt auf sich zu nehmen.
Das mag antiquiert klingen, aber ich finde das gut. Hurt ruft tiefe Emotionen hervor und zeigt eindrücklich, was Kunst sein soll. Das ist insofern erstaunlich, als es sich dezidiert um ein Genre aus der Pop-Kultur handelt. Mark Romaneks profunde und akribische Inszenierung der Vanitas im Pop-Video macht es paradoxerweise zu einem unvergänglichen Stück Kunst. Ich erinnere mich an Andreas Gryphius, auch ein großer Pop-Künstler im Barock, der über Schönheit und Verfall folgendes schreibt: "Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhauß grimmer Schmertzen. Ein Ball des falschen Gluecks/ ein Irrlicht dieser Zeit. Ein Schauplatz herber Angst/ besetzt mit scarffem Leid/ (...) Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfaellt/ Und wie ein Strom verfleust/ den keine Macht aufhaelt/ So muss auch unser Nahm/ Lob/ Ehr und Ruhm verschwinden/ was itzund Athem holt/ muß mit der Luft entflihn/ Was nach uns kommen wird/ wird uns das Grab nachzihn/ Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starcken Winden."
Gleich in den ersten Einstellungen zu Hurt erleben wir Johnny Cash wie in einem Museum der Vergänglichkeit. Schwarz gekleidet, mit der schwarzen Gitarre, sitzt er inmitten von Vasen und Bronzefiguren, Obstschalen, an den Wänden dunkle Holzpaneele, eine Uhr, ausgestopfte Vögel, Urnen, irgendwo eine reichgedeckte Tafel. Romanek hat die typischen Vanitas-Symbole sublim in sein Video eingearbeitet - erst nach oftmaliger Betrachtung kann man die Genauigkeit der scheinbar absichtlosen und nebensächlichen Details erkennen. Mit klassischen Mitteln der Filmmontage entsteht eine so extrem starke Bild-Komposition, die doch nichts anderes tut, als den letzten Gesang des Orpheus in ein großartiges und beunruhigendes Bild zu setzen. " I hurt myself today/ To see if I still feel/ I focus on the pain/ The only thing thats real/ The needle tears a hole/ The old familiar sting/ Try to kill it all away/ But I remember everything" - wir haben ziemlich viel über Johnny Cash gehört in den letzten Wochen, aber nirgends kann man die Dimension seiner Kunst besser verstehen als in diesem letzten Video.
Obwohl es nur ein simples Lied zu einer Gitarre zeigt, vorgetragen von einem sterbenden alten Mann, hat es die Kraft und das Charisma einer großen Oper. Die Todesnähe des Protagonisten, seine große Liebe zu der Frau im Hintergrund, sein unglaubliches Leben und sein Wissen um das Fegefeuer der Vergänglichkeit ermöglichte es ihm, als seine Karriere definitiv zu Ende schien, mit den "American Recordings" eine fulminante Wiederauferstehung. Angeblich war es ganz am Beginn seiner Karriere der Satz vom allerletzten Song, den man sterbend im Straßengraben noch singen sollte, der ihn zu dem berühmten und reichen Pop-Star machte, der er bis in die Achtziger und Neunziger des letzten Jahrhunderts bleiben sollte. Am Ende, kurz vor seinem Tod 2003, hat er es noch einmal wissen wollen und eines dieser allerletzten großartigen Lieder gesungen, die Gott innehalten lassen und einem das Gefühl geben, etwas Außergewöhnliches zu erleben. Nämlich einen kurzen Blick in die eigene Seele gewährt zu bekommen.
"You are someone else/ I am still right here."
Frankfurter Rundschau, 11.3.2006