Auf den Rängen herrschte Seligkeit, in den Katakomben Selbstkritik. Wie soll da die Analyse zum 2:1-Sieg des 1. FC Kaiserslautern über den FC St. Pauli ausfallen: Hart oder herzlich? Wir probieren mal den Mittelweg.
Küren wir zum Einstieg erst einmal unseren persönlichen Helden dieses Spiels. Und der heißt nicht Terrence Boyd. Obwohl der Stürmer einen Treffer selbst erzielte, den anderen auflegte und dafür auf datenbasierten Analyseforen wie "Who scored?" oder "Sofascore" die besten Bewertungen aller FCK-Spieler eingeheimst hat. Ungeachtet dessen, dass er in der 65. Spielminute eine "Hunderprozentige" ausließ, um auf 2:0 zu stellen.
Und nein, es ist auch nicht Marlon Ritter. Obwohl der sich erneut als Balleroberer wie Ballzauberer gleichermaßen in Szene setzte - und allein schon für die unnachahmliche Wühlarbeit, mit der er Boyds Großchance vorbereitete, eine Auszeichnung verdient hätte. Erik Durm ist es auch nicht. Obwohl der Rechtsverteidiger nach bislang soliden Defensivleistungen diesmal auch offensiv Akzente setzte und sich seinen ersten Assist-Punkt sicherte. Schon in der 9. Minute flankte er nach schönen Zusammenspiel mit Jean Zimmer auf Boyd, der zum 1:0 einköpfte.
Unser Held des Tages? Nicht Boyd, nicht Ritter, nicht Luthe
Es ist auch nicht Andreas Luthe, obwohl da die Wahl schon ziemlich eng wird: Der Keeper rettete in der zweiten Hälfte gleich mit drei Paraden den knappen 1:0-Vorsprung der Lautrer. Seine größte Tat vollbrachte Luthe in der 74. Minute, als er einen Schuss des in der Strafraummitte völlig freistehenden Igor Matanovic abwehrte.
Unser Held des Tages heißt - und das gerade, weil ihn sonst wohl niemand nominieren würde: Kevin Kraus. Nicht nur, weil er wieder mal eine insgesamt unaufgeregte Partie ablieferte und zeigte, weshalb FCK-Trainer Dirk Schuster ihn unlängst als einen der am meisten unterschätzten Spieler in seinem Kader bezeichnete. Sondern, weil er in der 86. Minute maßgeblich am zweiten Treffer beteiligt war. Und das, obwohl er nur der viertletzte war, der das Leder berührte, bevor es im Netz lag.
Es war Kraus, der den Ball am eigenen Sechzehner eroberte und auf Ritter passte. Und der anschließend zu einem Spurt bis tief in die gegnerische Hälfte ansetzte. Dabei zwang er einen St. Paulianer, ihm halbrechts in die vorderste Line zu folgen. Dadurch wiederum wurde der Passweg frei, den Philipp Hercher nutzte, um Boyd anzuspielen, der den einlaufenden Kenny Redondo bediente. Und der traf. Redondo war in der 64. Minute für Mike Wunderlich eingewechselt worden.
Die Kraus-Aktion zeigt, woran es zuvor gefehlt hatte
Was die Kraus-Aktion darüber hinaus so bedeutend macht? Die Entschlossenheit, die er in diesem Umschaltmoment zeigte - genau die war es, was dem FCK über weite Strecken dieser Partie gefehlt hatte. Der Mann mit dem kultigen Schnorres führte sie hier exemplarisch vor.
Nach der frühen Führung hatten die Roten Teufel erst einmal zurückgezogen agiert. Sie ließen bei gegnerischen Ballbesitz nur Boyd in der Gästehälfte stören und verschoben sich mit der nunmehr gewohnten Ordnung gegen den Ball. Dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen. Nur wurden die Momente, in denen es gilt, in die Passstafetten der anderen hineinzufunken, zunehmend weniger aufmerksam abgepasst. Und nach den Balleroberungen fehlte es immer häufiger an Energie, aber auch an der nötigen Präzision, um einen Konter erfolgreich zu Ende zu spielen. "Schlampiges Passspiel" und "falsche Laufwege" kreidete hinterher dann auch Schuster seinen Jungs an.
Hälfte zwei: Im Zentrum nicht mehr richtig dicht
In der zweiten Halbzeit, als St. Pauli-Trainer Timo Schultz den 1,94 Meter-Sturmtank Matanovic für den "Sechser" Afeez Aremu gebracht hatte, fanden die Hamburger zudem ständig Anspielstationen in der Mitte der Lautrer Hälfte. Im Grunde war ihr Spiel mit Mittelfeldraute ähnlich angelegt wie das der Hannoveraner zum Saisonauftakt vor knapp drei Wochen. Doch da war es den Pfälzern weitaus besser gelungen, die Mitte dicht zu machen. Was einer der Gründe gewesen sein mag, weshalb Schuster trotz des Sieges hinterher vom "schlechtesten Spiel" sprach, "seit ich hier in Kaiserslautern Trainer bin".
Allerdings hat sein Team auch gezeigt, dass es in der Lage ist, dazuzulernen. Nach dem späten Anschlusstreffer durch Jakov Medic in der 88. Minute zeigte Schiedsrichter Harm Osmers fünf Minuten Nachspielzeit an - und in denen demonstrierte die Elf, in der bereits fünf Mal gewechselt worden war, auf einmal vorbildlich, wie sich der Ball weit vom eigenen Tor fernhalten lässt, also im besten Sinn "vorwärts verteidigt" wird.
Boyd-Ersatz Lobinger: Kurze Einsatz, aber erste Verdienste
Die kurze Phase bot Lex Tyger Lobinger Gelegenheit, sich seine erste Lorbeeren im FCK-Dress zu verdienen, in dem er die gegnerische Defensive mit einigen Sprints in Atem hielt. Bislang hatte die Neuerwerbung eine eher unglückliche Figur abgegeben, wenn sie in Schlussminuten für Boyd aufs Feld gekommen war.
Apropos Boyd: Wer meint, er müsse dem Stürmer vorhalten, dass er in dieser Saison bereits mehrfach gute Einschussgelegenheiten ausgelassen hat, dem sei Boyds persönliche "Heatmap" ans Herz gelegt, die bei "Sofascore" einzusehen ist - herzlichen Dank übrigens an DBB-User "Oktober 1973", der uns auf dieses nette Feature aufmerksam gemacht hat. Die Grafik zeigt schön, wie Boyd sich als einzige Sturmspitze auf der gesamten Breite des Spielfelds abrackert, um Bälle festzumachen. Dass da mit zunehmender Dauer auch mal die nötige Ruhe vorm Tor fehlt, ist menschlich.
Boyds "Heatmap"
Die Standardschwäche: Da ist - buchstäblich - "Luft nach oben"
Ins Grübeln bringen wird Dirk Schuster die Standardschwäche seines Teams. Schon zum dritten Mal in einem Ligaspiel fiel ein Gegentreffer nach einem Eckball, ein weiterer beim 1:2 im Pokalspiel gegen den SC Freiburg. Und St. Pauli hätte in dieser Partie schon nach einer halben Stunde ausgleichen können, als Jackson Irvine nach einer Ecke von Marcel Hartel nur knapp am rechten Pfosten vorbeiköpfte.
Woran hängt’s? Boyd, Tomiak, Kraus, Hanslik, dazu den 1,95 Meter-Riesen Luthe auf der Linie - da sollte doch genug körperliche Präsenz vorhanden sein, um bei Eckbällen dagegenhalten zu können. Da muss weiter an der Konzentration, der Zuordnung und den Abläufen gearbeitet werden.
Lautern nach xGoals vorne - und sonst nirgends
Zu den Grafiken. Interessant, wie unterschiedlich diese Analysetools doch arbeiten. "bundesliga.de" sieht die Männer in Rot nach xGoals mit 2,01 : 1,14 vorne, "11tegen11" und "wyscout" kommen auf eine qualitative Bewertungen der Torchancen von 1,86 : 1,24 für den FCK. Wie auch immer, alle sehen Lautern in Front, und das dürfte an Boyds Großchance liegen, wie auch Sander Ijtsmas Timeline zeigt.
Ansonsten liegt der FC St. Pauli in so ziemlich allen relevanten Statistiken vorne: Ballbesitz (63 : 37 Prozent), Passquote (87 : 85 Prozent), Schüssen aufs Tor (15 :10), Torschüsse innerhalb des Strafraums (12 : 7) oder gewonnene Zweikämpfe (107 : 99). Tja, das ist eben Fußball.
Die Positions- und Passgrafik der Lautrer. Schön anzusehen, wie munter in der Offensive gepasst wurde. Interessant die Positionierungen von Ritter und Niehues, die auf dem Papier doch angeblich eine Doppelsechs sein sollen. Niehues zwischen den Innenverteidigern, Ritter auf einer Höhe mit Zehner Wunderlich. Diese Arbeitsteilung haben wir bereits in der Analyse des Freiburg-Spiels beschrieben.
Zum Vergleich die Positions- und Passgrafik der Hamburger. Viel Ballbesitz, viel hintenrum. Zentrum und Seele ihres Spiels ist die linke Abwehrseite mit Medic und Paqarada.
Quelle: Der Betze brennt | Autor: Eric Scherer
Weitere Links zum Thema:
- Saison-Übersicht 2021/22: Die DBB-Analysen der FCK-Spieltage