Über'n Tellerrand: Datenscouting im Fußball (1/2)

Datenscouting: Am Ende zählt immer der "Live"-Eindruck

Datenscouting: Am Ende zählt immer der "Live"-Eindruck


Unbestechliche Computer-Bewertungen statt menschliche Fehlurteile - das soll "Daten-Scouting" möglich machen. Doch was ist da dran? DBB-Autor Eric Scherer hat versucht, sich einen Überblick zu verschaffen.

FCK-Fans jenseits der 30 können sich wahrscheinlich noch gut an Stijn Vreven und Mika Nurmela erinnern. Der eine war belgischer, der andere finnischer Fußballprofi. Während seines Gastspiels beim 1. FC Kaiserslautern lotste Erik Gerets, ein international renommierter Coach, die beiden im Jahre 2003 auf den Betzenberg. Sie waren ihm aus der niederländischen Liga als Leistungsträger ihrer Teams bekannt, und er war überzeugt, sie könnten auch die Roten Teufel verstärken, zu Vreven meinte er gar, der sei "geboren, um für diesen Verein zu spielen". Doch es zeigte es sich schnell: Für die Bundesliga, in der der FCK damals spielte, reichte es bei beiden nicht. Sie waren schlicht und ergreifend zu langsam. Für Vreven war bereits nach acht Partien Schluss, Nurmela blieb zwar zwei Jahre, kam aber nur auf 28 Bundesliga-Einsätze, zum Teil nur als Einwechselspieler.

Aus heutiger Sicht darf mal gefragt werden: Hätte Gerets von diesen Verpflichtungen vielleicht Abstand genommen, wenn ihm damals schon die Datenbänke zur Verfügung gestanden hätten, auf die mittlerweile jeder in der Branche zugreifen kann? Etwa die von "Wyscout", dem Marktführer?

Zahlen bestimmen nicht alles, auch heute noch nicht

Das italienische Unternehmen, 2004 gegründet und seit 2010 in der heutigen Erscheinungsform präsent, hält Leistungsdaten von rund 400.000 Spielern aus 106 Ländern bereit. Listet dabei nicht nur Tore und Vorlagen eines Kickers auf, sondern macht auch Angaben über die Defensiv-Aktionen, etwa zu gewonnenen Zweikämpfe und Balleroberungen, oder zu seiner Passqualität: Wie viele lange Zuspiele kamen an, wie viele kurze, wie viele Pässen waren wirklich wirkungsvoll und haben eine oder mehrere Verteidigungslinien überspielt? Zahlende Kunden haben zudem die Möglichkeit, auf Videos von 220.000 Spielen zugreifen, wobei mit Schlagwörtern gezielt nach einzelnen Szenen gesucht werden kann. Das Angebot wird wöchentlich um 1.500 Partien ergänzt.

Ja, möglicherweise hätte diese Datenbank auch Gerets zu einer besseren Beurteilung von Vreven und Nurmela verholfen. Ob er allein der Daten wegen auf ihre Verpflichtung verzichtet hätte, darf allerdings bezweifelt werden. Denn Zahlen allein über Spielerverpflichtungen bestimmen zu lassen, ist auch heute noch nicht üblich. Auch wenn noch so viel über die immense Bedeutung des "Datenscoutings" im modernen Fußball geredet wird.

Der subjektive Eindruck zählt mehr

"Ich möchte es meinem subjektiven Eindruck überlassen, ob ein niederländischer Spieler mit Spitzenwerten in seiner Liga bei uns adaptiert", sagt beispielsweise Sven Mislintat, bis vor kurzem Sportdirektor beim VfB Stuttgart. "Denn ob diese sich in höheren Ligen anpassen, hängt davon, wie sie im Kopf sind."

Als Chefscout von Borussia Dortmund ist Mislintat vor einigen Jahren zur Legende geworden. Berühmtheit erlangte er vor allem durch die von ihm initiierte Verpflichtung von Shinji Kagawa, den er 2010 in der zweiten japanischen Liga entdeckte. Mit dem nahezu ablösefreien Kagawa auf der Zehn wurde der BVB danach zweimal Deutscher Meister. Anschließend wechselte der Spieler für 16 Millionen Euro Ablöse zu Manchester United.

Allerdings hätte Mislintat auch diesen Transfer niemals durchsetzen können, wenn er seinen Vorgesetzten nur Leistungsdaten vorgelegt hätte. Der damalige BVB-Trainer Jürgen Klopp wurde von Kagawa erst überzeugt, als er ihn leibhaftig im Training erlebte.

Beispiel Shechter: Den Fehler wollten auch andere machen

"Am Ende musst du dir die Spieler selbst live vor Ort ansehen. Wie sich ein Stürmer verhält, wenn der Ball nicht in der Nähe ist, siehst du nur im Stadion", bestätigte auch Boris Notzon, seinerzeit Sportdirektor des FCK, in einem Interview 2018. Dabei gilt Notzon wie Mislintat als Daten-Junkie. Als Leiter des Kölner "SportsLab" leistete Notzon schon vor 20 Jahren Pionierarbeit auf diesem Gebiet. Beim FCK installierte er ein Club-Management-System, das als erstklassig für einen langjährigen Dritt- und nunmehrigen Zweitligisten gelten darf. Darin abrufbar sind nicht nur alle Trainingseinheiten, Leistungstests, medizinische Daten, Scoutingberichte und Spielanalysen rund ums FCK-Profiteam, sondern auch des Nachwuchses.

Notzon äußerte sich in unserem damaligen Gespräch auch zu Itay Shechter, jenem israelischen Nationalspieler, den der FCK 2012 auf den Betzenberg transferierte, noch bevor Notzon in die Pfalz kam. Der damals 24-Jährige Shechter war in seiner Heimat als Stürmer gehandelt worden, der den Sprung in eine der Topligen Europas schaffen konnte. Der jedoch glückte ihm nicht. Nicht nur in Deutschland, sondern anschließend auch in England und Frankreich. Erst zurück in Israel fand der Stürmer jedoch wieder zu der Treffsicherheit zurück, die ihn einst so attraktiv für den internationalen Markt gemacht hatte. Ob Daten-Scouts diesen Wechsel hätten verhindern können?

"Nein", antwortete Notzon klipp und klar. "Shechter hat ja nicht nur in der israelischen Liga auffallend gespielt, er behauptete sich auch in internationalen Vergleichen, war mit seinem Klub in der Europa League sowie in der Nationalelf aktiv. An der fußballerischen Qualität fehlte es nicht." Der ehemalige FCK-Sportdirektor vermutet eher, dass es Shechter an Integrationswillen fehlte, ihm auch die Sprachbarriere zu schaffen machte. Dergleichen lässt sich unter Zuhilfenahme statistischer Daten nun einmal nicht einschätzen. Im übrigen hatte auch der 1. FC Köln, für den Notzon zu dieser Zeit arbeitete, Shechter im Visier, ebenso Hannover 96 und Bayer Leverkusen. Will sagen: Den Fehler, ihn zu holen, hätten auch andere gern gemacht. Für den FCK war es umso bitterer, weil er im Wettbieten mit Hannover über seine finanzielle Schmerzgrenze hinaus getrieben wurde und später den bis heute nicht korrigierten Abstieg aus der Bundesliga quittieren musste.

Beispiel Freiburg: Scouting in drei Schritten

Doch auch wenn es nicht allein selig macht, ist Datenscouting heutzutage unerlässlich, um den Kreis möglicher Transferkandidaten frühzeitig einzuengen. Das spart Geld, weil weniger vor Ort gescoutet werden muss. In dem 2022 erschienenen Buch "Was Teams erfolgreich macht" verrät Klemens Hartenbach, Sportdirektor und Chefscout des SC Freiburg, dem Autor Tobias Escher, wie er eine Scouting-Reise nach Argentinien plant. Erst werden die groben Daten zusammentragen, Spieler, die für den Sportclub in Frage kommen, nach Parametern wie Alter, Größe und Position sortiert. Im zweiten Schritt folgt die Videoanalyse. "Potenziell interessante Spieler werden in all ihren Facetten durchleuchtet. Was sind die Stärken, was die Schwächen eines Spielers? Wie verhält er sich im Ballbesitz, im Pressing, im eigenen und gegnerischen Strafraum?"

Anhand der Liste mit den noch verbleibenden Namen wird ein Reiseplan erstellt, den Hartenbach dann vor Ort abarbeitet. Stadion für Stadion, bis er alle Kandidaten persönlich gesehen hat. Und auf den Tribünen Südamerikas begegnet er regelmäßig Kollegen aus Valencia, Neapel und anderen europäischen Fußball-Städten, die sich die gleichen Spieler anschauen. Weil so ziemlich jeder in der Branche mittlerweile genauso arbeitet.

Beispiel Zuck: Daten deuten und bewerten will gelernt sein

Mehr oder weniger jedenfalls. Und die Bandbreite zwischen dem Mehr und dem Weniger kann durchaus gewaltig sein. Sich Zugriff auf eine Unmenge an Leistungsdaten beschaffen, kann heute jeder. Sie richtig zu deuten und die richtigen Prioritäten zu setzen, ist eine Kunst. Über die Qualität eines Innenverteidigers entscheiden andere Skills als bei einem Zehner. Über andere wiederum müssen alle verfügen. Hartenbach etwa betont immerfort die "Intensität", mit der ein Spieler über 90 Minuten bei der Sache sein muss, damit er für Freiburg interessant werden kann. Wer Pausen einlegt, sobald der Gegner den Ball hat, wer seine Mitspieler im Zweikampf nicht unterstützt, der werde in Freiburg schon im ersten Schritt aussortiert.

Ein Beispiel für zu oberflächliche Daten-Bewertung: Im Frühsommer 2021 hatten wir die Daten-Aufbereiter von "Createfootball" gebeten, für uns einmal Hendrick Zuck zu bewerten. Ihr Urteil fiel wenig schmeichelhaft aus: Nur zehn Prozent seiner Schnittstellenpässe kämen an, das sei "unterirdisch". Schwach seien auch seine Pässe ins letzte Drittel und sein Kopfballspiel, und seine Werte im Defensiv-Zweikampf seien in der Spielzeit 2020/21 sogar noch gesunken. "Zuck bietet kaum Mehrwert", so die Analysten. "Der Verein sollte von einer Vertragsverlängerung absehen".

Wir sahen und sehen ihn dennoch stärker. Dass er einer der wichtigsten Aufbauspieler des Teams ist, belegen regelmäßig die Positions- und Passgrafiken in unseren Spielanalysen. Daher haben wir "Createfootball"-Erkenntnisse in unserem Beitrag seinerzeit nur sehr sparsam verwendet. Und sind froh, dass der 32-Jährige noch mindestens bis Ende dieser Saison beim FCK unter Vertrag steht.

Beispiel Liverpool: Physiker analysieren Kicker-Physis - und mehr

In der "Analytics"-Abteilung des FC Liverpool arbeiten, das ist kein Witz, ein Doktor der theoretischen Physik, ein Doktor der Partikelphysik, ein Astrophysiker und ein ehemaliger britischer Schach-Jugendmeister. Sie werten Zahlen und Statistiken aus. Und filtern riesige Datenberge, um Erkenntnisse zu liefern, die Wettbewerbsvorteile bescheren. Über den heutigen Liverpooler Erfolgscoach Jürgen Klopp hatten die Nerds bereits ein 50-seitiges Daten-Dossier angefertigt, noch bevor der Verein zum ersten Mal an den damaligen Dortmunder Trainer herantrat.

Vor allem die finanzstarken englischen Klubs verlassen sich längst nicht mehr nur auf für jedermann verfügbare Daten-Anbieter wie Wyscout, um ihr Computerwissen zu mehren. Sie nutzen eigene Software-Programme, die die Basis-Daten vertiefen und verfeinern, und geben dafür alljährlich Millionen aus. Ein Wert, der genauer durchleuchtet werden will, ist zum Beispiel die in 08/15-Statistiken gern aufgeführte "Passquote". Wer nur Drei-Meter-Sicherheitspässe mit der Fußinnenseite spielt, verzeichnet da durchaus schon mal eine Erfolgsrate von 95 Prozent. Bei einem Spielgestalter aber, der fortwährend riskante Bälle schlägt, die gegnerische Verteidigungslinien überspielen und echte Torgefahr generieren, wären auch 50 Prozent Passerfolg ein Weltklasse-Wert. Solche Risiko-Ertrag-Verhältnisse genauer zu untersuchen, gehört zu den besonderen Leidenschaften der Liverpooler Analysten.

Beispiel "StatDNA": Exklusive Daten für den FC Arsenal

Sven Mislintat hat Borussia Dortmund Millionen und Abermillionen an Transfererlösen beschert, nachdem der Klub die Talente, die er entdeckte, weiterverkauft hatte. Zuletzt war er dreieinhalb Jahre als Sportdirektor beim VfB Stuttgart aktiv. Auch dort gelangen ihm einige internationale Transfers, die dem Verein enorme Gewinne bescherten. Stellvertretend genannt sei hier Sasa Kalajdzic, der 2019 für sechs Millionen Euro aus Österreich geholt wurde und 2022 für 18 Millionen Euro nach England weiterzog. Ein sportlich erfolgreiches Ganzes ließ sich aus Mislintats Verpflichtungen allerdings nicht formen. Der VfB spielt auch diese Saison gegen den Abstieg, und vor Kurzem beendeten der Verein und Sportdirektor ihre Zusammenarbeit - sehr zum Bedauern vieler Fans.

Einer der ganz wenigen Flops, die sich Mislintat noch in Dortmund leistete, wurmt ihn noch heute: der von Ciro Immobile, des italienischen Star-Stürmers, den der BVB 2014 für 18,5 Millionen Euro Ablöse als Ersatz für den nach München abgewanderten Robert Lewandowski verpflichtete und der gar nicht passte. Als Mislintat 2017 als Chefscout zum FC Arsenal wechselte, lernte er Software des Anbieters "StatDNA" kennen, die sich der Klub exklusiv gesichert hat.

Hätte er in Dortmund damals darauf Zugriff gehabt, hätte er damit gute Argumente gegen den Immobile-Transfer gefunden, verrät Mislintat dem Autor Christoph Biermann in dem Buch "Matchplan. Die neue Fußball-Matrix". Denn mit "StatDNA" hätte er nachweisen können, dass der Italiener viel zu wenig Ballbesitz in den tornahen Bereichen des Spielfelds hatte, dass sein Passspiel nur durchschnittlich und seine Durchsetzungsfähigkeit im Spiel Eins-gegen-Eins mäßig war. So erfolgreich er vor und nach seiner BVB-Zeit in seiner Heimat auch gewesen sein mochte.

Beispiel Dortmund: Günstig einkaufen und teuer verkaufen

Sven Mislintat war in Dortmund auch federführend, als der Verein 2016 eine eigene Scouting-Abteilung für Top-Talente aus der Taufe hob. Schon in den Jahren davor hatte der Verein mit dem günstigen Einkauf junger Spieler, ihrer guten Weiterentwicklung und schließlich dem Weiterverkauf gute Geschäfte gemacht: Allein Ilkay Gündogan, Henrikh Mkhitaryan und Mats Hummels brachten rund 100 Millionen Euro an Transfererlösen. Mit Jungs, die noch im Teenager-Alter in den Ruhrpott gelotst werden, sollten diese Gewinnmargen noch weiter erhöht werden. Die Rechnung ging auf: Allein mit Ousmane Dembélé, Jadon Sancho und Erling Haaland hat die Top-Talente-Abteilung seither rund 300 Millionen Euro an Ablösesummen erwirtschaftet. Und mit Jude Bellingham ist der nächste Wechselkandidat schon ausgeguckt.

Günstig einkaufen und teuer weiterverkaufen - das gilt längst als das einzig wahre Geschäftsprinzip für Klubs, die nicht von Mega-Investoren gepimpt werden. Und wo immer darüber schwadroniert wird, fällt bald auch ein bestimmter Begriff: "Moneyball". Und der wiederum ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Billy Beane. Und der lässt seit einiger Zeit auch FCK-Fans aufhorchen. Billy Beane? Der ist doch unlängst als "Geschäftspartner" der Pacific Media Group (PMG) genannt worden, die im Frühjahr letzten Jahres als Investor beim 1. FC Kaiserslautern eingestiegen ist.

Könnte das bedeuten, dass auch auf dem Betzenberg bald "Moneyball" gespielt wird? Dieser Frage spüren wir morgen im zweiten Teil unserer Betrachtung über "Datenscouting" nach.

Quelle: Der Betze brennt | Autor: Eric Scherer

Weitere Links zum Thema:

- Datenscouting, Teil 2: Vom "Moneyball" und anderen Mythen (Der Betze brennt)

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