Alles zur zweiten Mannschaft und den Jugendteams des FCK.

Beitragvon Kohlmeyer » 10.07.2023, 12:43


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Interview mit Sportwissenschaftler Prof. Dr. Arne Güllich
"Nur einer von Tausend wird Profi"

In Kaiserslautern wird Fußball nicht nur gespielt, sondern auch erforscht. Prof. Dr. Arne Güllich von der RPTU legt nun eine Studie zur Talentförderung vor, die erschüttert. DBB-Autor Eric Scherer hat ihn interviewt.

Der Betze brennt: Professor Arne Güllich, Sie haben über fast ein Jahrzehnt hinweg die Talententwicklung in den rund 50 deutschen Nachwuchsleistungszentren (NLZ) sowie 30 internationalen "Youth Soccer Academies" untersucht. Die Studie, die Sie nun vorgelegt haben, stellt diesen ein vernichtendes Zeugnis aus ...

Prof. Dr. Arne Güllich (58): An der Stelle muss ich gleich mal einhaken. An den NLZs arbeiten ohne Frage viele qualifizierte, engagierte, zum Teil hervorragende Trainer. Wenn ich allein den Sportpark Rote Teufel bei uns vor Ort am Fröhnerhof in Kaiserslautern betrachte: Ein großer Teil der Trainer, die in den vergangenen Jahren dort tätig waren und noch sind, sind Sport-Studierende und Absolventen der TU Kaiserslautern. Mit dem NLZ des FCK haben wir in der Vergangenheit auch so manche Projekte verwirklicht, die für beide Seiten von großem Nutzen waren. Wenn das NLZ-System nicht so funktioniert, wie es gedacht ist, liegt das nicht am einzelnen Trainer im NLZ.

Der Betze brennt: Ihre Studie belegt, dass von 1.000 jungen Spielern in einem NLZ am Ende ein einziger ein erfolgreicher Profi wird. Wer außer den Trainern soll an dieser traurigen Bilanz denn schuld sein?

Güllich: Es ist das System an sich. Ein typisches Beispiel für das Muster: Alle machen mit und keiner ist schuld. Schon die grundlegende Idee, die einem NLZ zugrunde liegt, ist ein Irrtum. Man glaubt, bereits bei 8- bis 12-Jährigen erkennen zu können, wer das Potenzial zum Spitzenfußballer hat. Man hält diejenigen, die in jungen Jahren schon am weitesten entwickelt sind, für die größten Talente. Durch die Förderung soll die Leistungsentwicklung des erkannten Talents weiter beschleunigt werden. Die Förderung wird langfristig und durchgängig fortgeführt, bis im Erwachsenenalter der erfolgreiche Profi herauskommt. Unsere Forschung zeigt: Diese Vorstellung geht an der Realität vorbei. Man kann Talente in jungen Jahren nicht verlässlich erkennen, eine langfristige durchgängige Entwicklung ist die Ausnahme, und die frühe Förderung und forcierte Beschleunigung führt zu einem geringerem Erfolg im Erwachsenenalter.

"Menschliche Entwicklungen lassen sich nur schwer steuern"

Der Betze brennt: Aber es gibt doch Indikatoren, auf die gut ausgebildete Talentscouts achten und die sie kompetent beurteilen können.

Güllich: Natürlich. Sie betrachten sich Körperbau, körperliche Fähigkeiten wie Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer. Fertigkeiten der Ballkontrolle wie Passen, Annehmen, Dribbeln und Schießen. Spiel- und taktisches Verständnis, psychologische Merkmale wie Motivation, Selbstkonzept und Resilienz. Die Frage ist erstens, ob ein herausragender 10- bis 14-Jähriger auch noch im Erwachsenenalter in diesen Punkten herausragen wird, und zweitens, ob diese Merkmale im Kindesalter die Leistung im Profi-Alter vorhersagen. Die nachweisbare Vorhersagekraft von solchen Beurteilungen in dieser Altersgruppe, das haben wir und andere errechnet, liegt zwischen null und 3,5 Prozent. Wenn die genannten Merkmale klug kombiniert werden, bei etwa sieben Prozent. Bedenken wir bei alledem nun noch die Erfolgsquote von etwa einem Promille, dann liegt die Trefferquote der Talentauswahl bei 0,2 bis 0,7 Prozent.

Der Betze brennt: Und warum ist das so?

Güllich: Weil es Menschen sind, deren Entwicklungen eben unglaublich komplex sind und sich nur schwer steuern und erst recht schwer vorhersagen lassen. Gerade ab einem so frühen Alter. Die Forschungen haben übrigens auch gezeigt, dass eine frühe Förderung langfristig zu geringerem Erfolg führt. In verschiedenen Ländern - darunter Deutschland, Großbritannien, Spanien, Niederlande - wurden erwachsene Spieler dahingehend untersucht, in welchem Alter sie in ein NLZ oder eine Youth Soccer Academy sowie in U-Auswahlmannschaften einstiegen. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Eine frühe Förderung führt zu frühen Erfolgen im Jugendalter, aber zu geringerem langfristigem Erfolg im Erwachsenenalter. Spieler, die im Alter zwischen 12 bis 15 Jahren in ihren Teams überragten, fanden sich im Erwachsenenalter in der Regel in der dritten bis fünften Liga wieder. Umgekehrt ist es bei Spielern, die als Weltklasse galten - von denen hat weniger als jeder Zehnte einmal in einer U15-Nationalmannschaft gespielt. Ähnlich sieht es bei den NLZs aus: Wer in einem späteren Alter in ein NLZ wechselt, hat eine viel größere Chance, als Erwachsener in einem Profikader zu stehen. Die liegt dann bei ungefähr zehn Prozent.

"Eine zweite Sportart fördert auch die fußballerische Entwicklung"

Der Betze brennt: Ihre Studie belegt auch, dass sich die Karrierechancen eines Spielers erhöhen, wenn er im Juniorenalter noch eine zweite Sportart ausgeübt hat. In der Tat fallen uns spontan einige FCK-Ikonen ein, auf die dies zutrifft. Lauterns Weltmeister Werner Kohlmeyer war in jungen Jahren Leichtathlet, ebenso der Vize-Weltmeister und Europameister Hans-Peter Briegel. Die schwedische Torwartlegende Ronnie Hellström hat in seiner Jugend Eishockey gespielt ...

Güllich: Und wir haben nun wissenschaftlich nachgewiesen, dass dies keine zufälligen biographischen Übereinstimmungen sind. Übrigens ist das bis heute die einzige derartige Studie weltweit. Das war nur möglich, weil ein Bundesliga-Spieler bei uns seine Staatsexamensarbeit geschrieben hat. Er hatte eben die Möglichkeit, viele seiner Berufskollegen zu befragen. Dabei hat er die Spieler, die es in die Nationalmannschaft geschafft haben, mit durchschnittlichen Bundesligaspielern verglichen und in ihren Biografien zwei Merkmale identifiziert, die den Unterschied machten. Erstens: Die Nationalspieler haben als Junioren eher weniger Fußball trainiert als die anderen. Und zweitens: Sie haben neben Fußball noch eine oder zwei weitere Sportarten ausgeübt. Im Durchschnitt acht Jahre lang und mit Teilnahmen am Wettkampfsport in diesen Sportarten. Welche Sportart, schien übrigens keine Rolle zu spielen. Tennis kam recht häufig vor, aber auch Leichtathletik, Handball, Basketball und Tischtennis.

Der Betze brennt: Und warum macht diese zweite Sportart diese Spieler am Ende zu besseren Fußballern?

Güllich: Da sehen wir drei Erklärungen. Erstens, es ist gut gesichert, dass Spieler, die verschiedene Sportarten betrieben haben, später weniger Überlastungsschäden in den Gelenken haben. Zweitens ist es logisch zwingend, dass jemand, der in verschiedenen Sportarten eigene authentische Erfahrungen macht, also mit spezialisierten Trainern langjährig leistungsbezogen trainiert hat, besser die Sportart bestimmen kann, die am besten zu ihm passt. Und die dritte Erklärung: Die Erfahrungen in den verschiedenen Sportarten machen ihn später zu einem besseren Lerner im Fußball. Der Spieler lernt, verschiedene Lernaufgaben in verschiedenen Situationen mit verschiedenen Lernmethoden zu bewältigen. Wir nennen das ein größeres Lernkapital. Das hilft ihm für das langfristige Lernen im Fußball.

"Deutsche Nationalspieler kennen nur einen Plan A"

Der Betze brennt: Sehen Sie das schlechte Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft zuletzt auch als Folge dieses dysfunktionalen Ausbildungssystems?

Güllich: Natürlich ist es einer der Faktoren. Wenn viele Potenziale verloren gehen und die frühe NLZ-Förderung langfristige Erfolge verringert, muss das zwangsläufig zu weniger Spitzenspielern führen. Und vermutlich kommt noch etwas hinzu. Was ich jetzt sage, ist noch nicht wissenschaftlich untersucht, aber wir interessierte Laien konnten das Folgende, glaube ich, alle beobachten: Die deutschen Mannschaften hatten bei den vergangenen Turnieren nur einen Plan A, nur ein Konzept. Die Gegner konnten sich leicht darauf einstellen, und unsere Mannschaften konnten nicht auf einen Plan B oder C umstellen. Der DFB war einerseits sehr erfolgreich darin, seine Spielphilosophie und sein Ausbildungskonzept durchzusetzen. Aber so wurden andererseits eben alle Spieler nach ein und demselben Konzept ausgebildet. Und ich würde einen weiteren Punkt ansprechen: Wir wünschen uns reife, erwachsene, verantwortungsbewusste Spieler. Um im Jugendalter Verantwortung zu lernen, muss ich Möglichkeiten haben, selbst Entscheidungen über die Verwendung frei verfügbarer Zeit zu treffen und so Verantwortung einzuüben. Wir lassen den Nachwuchs aber in einer Art Ghetto aufwachsen, wo jeder Tag komplett durchgetaktet ist, vom Aufstehen bis zum Einschlafen. Der Spieler lebt nur unter seinesgleichen, der Freundeskreis beschränkt sich auf die Fußballwelt, wo die Freunde gleichzeitig die Konkurrenten um den Platz im NLZ sind. Die Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung sind dadurch stark eingeschränkt. In anderen Ländern habe ich viele Youth Soccer Academies gesehen, wo die Spieler viel mehr Freiräume haben und bewusst ihre Mitbestimmung gefördert und auch verlangt wird. Die haben ihrer Mannschaft bei einer Besprechung unter der Woche den kommenden Gegner vorgestellt und sie dann aufgefordert, nun selbst zu bestimmen, wie sie das Spiel angehen wollen. Die jugendlichen Spieler können und sollen die Spieltaktik, die Aufstellung und übrigens auch das Training mitbestimmen. Außerdem natürlich ihre Freizeit.

Der Betze brennt: Es lässt sich doch aber nicht leugnen, dass die deutschen NLZs Spieler hervorbringen, die zumindest Bundesliga-Niveau haben. Und das ist ja jetzt auch nicht soo schlecht ...

Güllich: Genau. Rückwärts betrachtet sind die meisten Bundesligaprofis in einem NLZ gewesen. Umgekehrt, sozusagen vorwärts betrachtet, bringen die NLZs aus den tausenden jungen Spielern später einige wenige Bundesligaprofis und viele Dritt- bis Fünftliga-Spieler hervor. Dabei ist die gesamte Funktionsweise nicht so, wie sie ursprünglich gedacht war. Es sind keine Fördersysteme, in denen Talente früh erkannt und dann langjährig bis in die Spitze durchgängig gefördert werden. Sondern es ist vor allem ein System des Ein- und Aussortierens. Nach jeder Spielzeit werden im Durchschnitt 29 Prozent eines Juniorenkaders ausgetauscht, und das recht gleichmäßig von der U11 bis zur U19. Das heißt, schon nach drei Jahren ist nur noch ein Drittel des Kaders identisch. Deswegen kommt am Ende ja nur einer von 1.000 in der Bundesliga an. Viele Spieler werden erprobt und die Anzahl der ausprobierten Spieler wird durch das umfangreiche Austauschen systematisch ausgeweitet. Einige wenige bewähren sich und dürfen vorerst bleiben. Die meisten werden aber nach kurzer Zeit wieder aussortiert und durch andere ersetzt, die nun wiederum erprobt werden. Die Spieler, die es am Ende schaffen, kristallisieren sich also im Zuge der Erprobungsprozesse im Laufe der Altersklassen heraus. Wir können hier also kaum von einem Fördersystem sprechen, sondern eher von einem System der rollierenden Selektion und Deselektion, des fortwährenden Ein- und Aussortierens.

"55 Prozent der Aussortierten leiden unter Stress und Depressionen"

Der Betze brennt: Haben Sie sich auch mal mit den jungen Spielern befasst, die in diesem System auf der Strecke bleiben?

Güllich: Haben wir. Diese Ergebnisse sind vielleicht sogar die erschreckendsten von allen. Es wurden zahlreiche Spieler interviewt, die aus den NLZ oder einer Youth Academy aussortiert worden sind. 55 Prozent leiden unter klinisch relevanten Stress- und Depressionssymptomen. Und damit sind längst nicht alle negativen Folgen für die jungen Menschen erfasst. Viele haben früh ihr Elternhaus verlassen, ihre Sportkameraden im Heimatverein, ihre Freunde - und die, die sie dann im NLZ gefunden haben, waren gleichzeitig ihre Konkurrenten um den Platz im NLZ. Sie haben Vereinsfunktionäre erlebt, deren Reden und Handeln auseinanderfällt, die ihnen immer wieder erzählten, sie wollten mehr Spieler aus der eigenen Jugend im Profikader und die dann doch immer mehr neue Spieler von auswärts holten. Im Dauerstress zwischen Schule und Training haben sie nicht die Abschlüsse erreicht, die sie hätten erreichen können. So ist aus manchem, der Gehirnchirurg hätte werden können, nur ein Pizzalieferant geworden. Weil ihm mit 16 eingeredet wurde, zum Toreschießen brauchst du kein Abi.

Der Betze brennt: Und das läuft wirklich in allen NLZs so ab?

Güllich: Nicht in allen, aber in vielen. Es gibt Ausnahmen. Ich habe mittlerweile sechs NLZs beraten. Zwei davon darf ich namentlich nennen: Mainz 05 und den SC Freiburg. Da gilt als oberste Regel: Schule hat Vorrang. Sobald da die Leistungen absacken, gibt es Trainingsverbot, bis die Schulleistungen wieder stimmen. Resultat: 70 Prozent der NLZ-Besucher in Mainz und Freiburg machen Abitur. Zweitens: Die Vereine fördern aktiv, wenn die Spieler eine zweite Sportart betreiben, in einem Fall bis 14, im anderen bis 16 Jahre. Drittens: Kein Junior wird von weiter weg geholt. Bis 14 Jahre haben sich die Vereine per Selbstverpflichtung einen 50-Kilometer-Radius auferlegt, bis 16 Jahre 80 Kilometer. Ein Internat ist erst ab 15 Jahren vorgesehen. Darüber hinaus existieren Kooperationen mit 20 bis 30 regionalen Vereinen, wo Spieler durchaus beobachtet werden. Man nimmt Kontakt mit dem Trainer, den Eltern und dem Spieler auf, aber er wird im Heimatverein belassen und aus der Ferne unterstützt, aber erst ins NLZ geholt, wenn die Zeit dafür als reif angesehen wird. Dass dieser Weg sportlich erfolgreich sein kann, hat sich gezeigt. Beide Vereine haben etliche Profis der Ersten und Zweiten Liga entwickelt. Die A-Junioren von Mainz 05 sind gerade Deutscher Meister geworden.

"DFL und DFB leiden unter struktureller Trägheit"

Der Betze brennt: Ihre Studie bietet nun beste Argumente für eine radikale Reform. Ist eine solche denn denkbar? Wie ist denn die Resonanz bislang?

Güllich: Seit der Veröffentlichung erhalten wir Anfragen aus aller Welt, darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Australien, Japan, China und einige mehr. Wir werden eingeladen, vor Ort Vorträge zu halten. Hinzu kommt eine Vielzahl von Telefon- oder Zoom-Interviews.

Der Betze brennt: Und was regt sich in Deutschland?

Güllich: Der DFB hatte uns eingeladen, einmal einen Vortrag vor den Leitern der NLZs zu halten. Und einen vor den Koordinatoren der DFB-Stützpunkte. Die wurden zunächst recht geräuschlos zur Kenntnis genommen. Hinterher aber kamen einige NLZ-Leiter auf uns zu und haben uns gebeten, doch einmal bei Ihnen vorbeizuschauen.

Der Betze brennt: Das klingt nicht, als strebe der DFB auf der Basis Ihrer Erkenntnisse in absehbarer Zeit eine Reform seines Ausbildungssystems an.

Güllich: Ich glaube, die Musik macht hier eher die DFL mit ihren Vereinen und NLZs als der DFB. Aber für solche Dachorganisationen ist es generell ungeheuer schwierig, strategische Irrtümer einzuräumen und sich von innen heraus wirklich zu reformieren. Soziologen sprechen von "struktureller Trägheit". Diese ist besonders stark bei Organisationen, die symbolische Güter herstellen - in unserem Fall, dass sie sportlichen Erfolg "produzieren" sollen -, die unter öffentlicher Beobachtung stehen und die von der Politik abhängig sind. Auf den DFB und DFL trifft alles zu. Veränderungen wären noch am ehesten denkbar, wenn es zu einschneidenden Budgetkürzungen käme oder zu einem sogenannten exogenen Schock, der alles in Frage stellt, etwa seitens der öffentlichen Meinung.

"Reformen müssten die Trainer anstoßen - und die Eltern"

Der Betze brennt: Zweimal hintereinander bei einer WM in der Gruppenphase ausgeschieden, bei der EM dazwischen im Achtelfinale die Segel gestrichen, und zuletzt hat auch die U21-Nationalmannschaft versagt. Sollte das keinen exogenen Schock bewirken, der alles in Frage stellt?

Güllich: Das hätte ich auch gedacht. Anscheinend ist aber entweder der Leidensdruck immer noch nicht groß genug. Oder aber, es geht dem DFB und den DFL-Vereinen mit oder ohne Erfolge der Nationalmannschaft gut genug.

Der Betze brennt: Dann haben Sie gar keine Hoffnung, dass Ihre Arbeit irgendwas ändern könnte?

Güllich: Nun, unsere Aufgabe liegt darin, gesichertes Wissen zu vermehren. Ob Praktiker und Praxisorganisationen das Wissen aufnehmen oder nicht, dafür können sie viele Gründe haben. Wie gesagt, international nehmen viele Sportorganisationen die aktuelle Forschung auf und auch national etliche NLZ-Trainer. Wir haben, wie ich eingangs schon sagte, gute, engagierte Trainer in den NLZs. Und die sind auch nicht glücklich damit, wie es zurzeit läuft. Sie möchten ein freundschaftliches, von emotionaler Wärme getragenes pädagogisches Verhältnis zu ihren jungen Spielern aufbauen, müssen aber immer im Hinterkopf haben, dass sie zu Saisonende ein Drittel ihres Kaders aussortieren müssen. Gleichzeitig haben sie Funktionäre über sich, die von langfristiger Entwicklung der Spieler reden, die sie aber vor die Tür setzen werden, wenn sie nicht kurzfristig ihre Spiele gewinnen. Alle Trainer haben davon erzählt, wie sehr sie das belastet. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Masse der Trainer auf kurz oder lang Veränderungen einfordern wird. Und ich setze auch auf die Eltern, die eine nicht zu unterschätzende Einflussgröße darstellen. Denen muss man aber reinen Wein einschenken.

Der Betze brennt: Reiner Wein? Wie sieht der aus?

Güllich: Statt den Eltern einzureden, bei uns wird dein Sohn zum Profi gemacht, wäre es ehrlich, ihnen zu sagen: Euer 12-Jähriger, der in seinem Team gegenwärtig herausragt - wenn Ihr den zu uns ins NLZ schickt, wird er gut trainiert, sich als Persönlichkeit gut entwickeln, den für ihn besten Schulabschluss machen und hoffentlich auch einfach eine gute Zeit in diesem Lebensabschnitt haben. Aber die Chance, dass er es in die Bundesliga schafft, ist 1 : 1000. Und dann setze ich auch auf die Medien, dass sie die aktuelle Forschung - unsere und die einiger anderer Forschungsteams - publik machen und zu einer informierten öffentlichen Meinung beitragen. Deshalb gebe ich auch gerne dieses Interview. So etwas tue ich nämlich normalerweise gar nicht so gerne.

Der Betze brennt: Dafür haben wir Ihnen gerne zugehört. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Güllich. Alles Gute für Sie und Ihre Studien - auf dass sie weiter auf Resonanz stoßen.

Zur Person:

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Professor Dr. Arne Güllich arbeitet seit 2008 auf dem Fachgebiet Sportwissenschaft der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU; bis 2022: TU Kaiserslautern). Seit 2010 leitet der heute 58-Jährige das Institut für Angewandte Sportwissenschaft, seit 2011 doziert er an der RPTU als Professor für Sportwissenschaft. Davor übte er verschiedene Funktionen im Geschäftsbereich Leistungssport des Deutschen Olympischen Sportbundes aus und war unter anderem als Leichtathletik-Verbandstrainer aktiv. Studiert hat Arne Güllich am Institut für Sportwissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. In dessen Abteilung für Leistungsdiagnostik war er auch wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Quelle: Der Betze brennt / Autor: Eric Scherer



Beitragvon Mörserknecht » 10.07.2023, 13:24


Großartiges Interview, danke! Es freut mich, dass die Herangehensweise bei der Talentförderung nicht nur kritisch hinterfragt, sondern wissenschaftlich aufbereitet wird.

Dass (frühes) Talent in allen Bereichen, sei es Sport oder seien es andere Gebiete, egal welcher Fachrichtung, nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist lange Gegenstand der Forschung von Carol S. Dweck von der Stanford University gewesen. Etwas langatmig zusammengefasst in dem im Übrigen schönen populärwissenschaftlichen Buch mit dem ein wenig irreführenden Titel "Selbstbild" (engl. treffender "Mindset"). Kann man den Interessierten nur empfehlen. Gibt´s auch als Hörbuch.
Zuletzt geändert von Mörserknecht am 10.07.2023, 13:45, insgesamt 1-mal geändert.
Gislason, wink emol!



Beitragvon SGRK98 » 10.07.2023, 13:37


Eine sehr spannende Studie und Interview.

Finde besonders interessant das es eins zu eins auf andere Sportarten und die Erfahrungen dort passt. Komme selbst aus dem Leistungssport Schwimmen und ist 1 zu 1 das selbe. Die am Ende Erfolgreichsten sind (meistens) die Kinder die sich später entwickeln, dadurch meist zu Beginn nicht viel gefördert werden und daher oft mehrere Sportarten parallel machen um gleichviel Sport wie die im jungen Jahren erfolgreichen haben.

Die wiederum haben oft Probleme hinsichtlich Verletzungen und Dysbalance durch zu früh zu viel einsiges Training.

Einen krassen Unterschied sieht man oft auch darin, dass die Kinder die mehrere Sportarten ausführen, leichter und schneller neue Sachen erlernen können und eine weit aus besser Koordination haben.

Ich habe viele KSC Spieler vom NLZ auf meiner Sportschule in meiner Schulzeit erlebt und von dem ganzen dort denen eingetrichtert wurden sie werden Profis hat es genau 1 Spieler geschafft im die ersten zwei Bundesligen zu spielen.

Spannend finde ich jz aber noch die Frage was sagt das FCK NLZ dazu. Wie machen sie es oder kann man an den Beispielen Mainz und Freiburg die ja scheinbar nach dem System handeln was nachmachen? Gibt es die Möglichkeit dort auf dieses Studie mal anzusprechen?



Beitragvon herzdrigger » 10.07.2023, 13:38


Hervorragend, sehr kritisch und wird hoffentlich auch bei unserem FCK diskutiert.

Besonders betroffen macht folgendes:
Aussortierte Jugendliche aus den NLZ - "55 Prozent leiden unter klinisch relevanten Stress- und Depressionssymptomen."

Weder gut noch nachhaltig. Eher Körperverletzung.
Hier müssen dringend andere, von den Wissenschaften vorgeschlagene Wege eingeschlagen werden.
Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.



Beitragvon Ronsen » 10.07.2023, 13:55


Finde auch ein guter Artikel, und auch nicht ganz überraschend. Finde schade das der Fck sich da bis jetzt net mit angeschlossen hat. Da mus ich echt sagen Mainz und Freiburg machen das net schlecht. Und wünsche mir von unsere Seite das wir auch den Weg einschlagen. Vor allem weil wir ja wissen das wir mit andere net mithalten können. Und wenn ich ehrlich bin will ich das auch nicht. Finde es besser einen Sonderweg einzuschlagen, auch wenn das vielleicht heisst das mann das eine Talent nicht bekommt. Aber gerade zu unserem Verein sollte doch die Entwicklung und Förderung von jungen Menschen passen. Und sind wir mal ehrlich, wieviel Spieler bekommen wir den die letzte Zeit wo sich im Profi Bereich durchsetzen. Sobald sie gerade aus laufen können sind sie weg.



Beitragvon Lautern-Fahne » 10.07.2023, 13:57


Es ist gut, dass es sowas gibt. Nur ist es doch alter Wein in neuen Schläuchen. Und ich bin entsetzt, dass solche Punkte scheinbar in deutschen NLZs unbekannt sind.

https://www.medimops.de/malcolm-gladwell-ueberflieger-warum-manche-menschen-erfolgreich-sind-und-andere-nicht-taschenbuch-M03492258190.html?variant=UsedVeryGood&creative=&sitelink=&gclid=CjwKCAjw2K6lBhBXEiwA5RjtCSHHoVXvp4bv96mzvT9685_Mi5L0KaTvD59mfDyDA1dsldD3ISFRYxoC9lYQAvD_BwE

Das was der Mann da beschreibt wurde um 2009 schon in diesem Buch beschrieben. Es ist eine großangelegte Studie und handelt von Ausnahmetalenten aus Sport, Kunst und Musik. Und wie die dazu wurden, was sie wurden. Da wurde auch gründlich mit dem Mythos des "Talents" aufgeräumt.

In kurz die zentrale These aus der Sportwelt die hängen blieb und eine Ergänzung zu Professor Güllich sind.

Warum werden so viele Jugendliche aussortiert?
In den meisten Profisportarten gibt es feste Regeltermine zur Jugendsichtung. Im Buch wird als Beispiel Eishockey genommen. Da sind die Sichtungstermine im August. Die Forscher aus dem Buch machten eine große Auflistung an Geburtsmonaten von National- und Profispielern. Ergebnis:

Fast alle waren zwischen September und November geboren. Warum ist das wichtig? Sagen wir 2 Jungs sollen an einem Auswahlverfahren für einen Jahrgang teilnehmen. Der eine wurde im September 2013 geboren, der andere im März 2014. Beide nehmen, da sie auf dem Papier gleich alt sind (10) am selben Sichtungstraining im August 2024 teil.
Der Unterschied: bei gleichem Training, hat der im September geborene ein halbes Jahr (also umgerechnet 10%!!) mehr Entwicklungszeit gehabt. Körperlich ist er tendenziell größer, der Körper hat ein halbes Jahr mehr Training (Kondition) und geistig ist der im September geborene wahrscheinlich auch weiter, da er tendenziell früher eingeschult wurde.

Diese Tatsache kann man 1:1 auf Fußball übertragen. Nur sind hier die Sichtungen im April/Mai. Hier mal der derzeitige DFB Kader:
https://www.dfb.de/maenner-nationalmannschaft/team/

ALLE Spieler außer Thiaw, Schlotterbeck, Kehrer und Gündogan sind in Frühlings-/Sommermonaten geboren. Die Spieler, denen wie oben ein halbes Jahr fehlt (Also die die eher von August bis November auf die Welt kamen) werden früh rausgeprüft, weil die angeblich weniger "Talent" haben. Dabei fehlt einfach ein halbes Jahr Training.

Die Kanadier lösten das Problem sehr einfach: Es gibt 2 Sichtungstermine. Der eine Für die in der ersten Jahreshälfte geborenen. Den anderen für die der zweiten Jahreshälfte.

Kann das Buch sehr empfehlen und gerade für Eltern ist das Gold wert. Es hilft ungemein die Entwicklung des eigenen Kindes einzuordnen und eine vernünftige Leistungsförderung zu betreiben. Wenn in der NLZ in Deutschland wirklich ein Klima vorherrscht wie es der Professor Güllich beschreibt wundert es mich nicht, dass wir immer weiter zurückfallen. Da sind dann Klinsmanns Reformen (der z.B. von der Eishockeystudie wusste) im Sande verlaufen. Die NLZs haben meines Wissens Anweisung bekommen auf die schulische Ausbildung achten. Diejenigen die darauf pfeiffen sollte man dann auch direkt jegliche Förderung entziehen.
"Für mich ist Schönheit, dem Gegner nicht zu geben was er will."

"Es gibt Leute die sagen, kreative Spieler seien von Abwehraufgaben zu entlasten. Wer dies behauptet, kennt den Fußball nicht. Alle elf müssen zu jeder Zeit genau wissen, was sie zu tun haben"

José Mourinho



Beitragvon Strafraum » 10.07.2023, 14:36


SGRK98 hat geschrieben:Spannend finde ich jz aber noch die Frage was sagt das FCK NLZ dazu. Wie machen sie es oder kann man an den Beispielen Mainz und Freiburg die ja scheinbar nach dem System handeln was nachmachen? Gibt es die Möglichkeit dort auf dieses Studie mal anzusprechen?


Würde mich auch interessieren wie der FCK damit umgeht. Allerdings so meine Vermutung werden wir da hinter her hinken. Geschuldet wegen des Jahre langen Niedergangs, da wurde übelst am NLZ gespart.

Die Frage ist aber auch wie läuft bei uns die Talentsichtung? Wie kann es sein das bei einem Stern Verein vom FCK, dem TSV Gau-Odernheim die Mainzer ein und ausgehen und auch Training dort für die Jugendspieler abhalten um vor Ort Talente zu sichten?

Mein Neffe hatte es bis nach MZ-Bretzenheim geschafft. Ein Talentsichter hat ihn jetzt nach Darmstadt in die Jugend gelotst. Mein Neffe sagte, lieber Darmstadt als zu den scheiss Mainzern :lol: Ob er es allerdings bei 98 schafft, wird sich weisen. Ich drücke ihm die Daumen.
Ruhe an der Murmel! Das muss in die Birne!



Beitragvon winnes » 10.07.2023, 15:33


Suerspannendes Interview!

Für von der Materie unbedarfte, wie mich, offenbart das Interview die Unmenschlichkeit, die aus der kollektiven Leidenschaft Fußball geworden ist: Dadurch, dass ihn alle lieben, bringt er menschenverachtende Züge hervor. Klingt nach Tour de France? Scheint ein Effekt einseitiger und zugleich maßloser Übertreibung zu sein - wie übrigens auch die inflationären Geldsummen, die in der Branche zulasten anderer Teilnehmer*innen am gleichen Geldsystem zirkulieren.

Des Weiteren scheint die Einseitigkeit in ein unsittliches Bild von Menschen zu führen, wonach die Würde vom Leistungspotential abhängt. Auch hier ist der Fußball wie ein Schaufenster, denn wer sich an's Schulsystem erinnert fühlt, muss lediglich über graduelle Unterschiede hinwegsehen - ansonsten gleicht sich das enorm -
Es wurden zahlreiche Spieler interviewt, die aus den NLZ oder einer Youth Academy aussortiert worden sind. 55 Prozent leiden unter klinisch relevanten Stress- und Depressionssymptomen.


Vielleicht würde man die Depressionen eher bei den durchgefallenen Abiturient*innen finden, bei den Hauptschulabsolvent*innen dann vielleiht eher die oft lebenslange Scham der Deklassierung (vgl. hierzu die Arbeit vom Lauternfan Christian Baron). Für die NLZ-Trainer*innen spricht absolut, dass Sie sich andere Begegnungsräume wünschen - wo bleibt der Aufstand des pädagogischen Personals in den Schulen?

Auf dieser unsittlichen Entwürdigung beruht dann auch der Glaube an die Steuerbarkeit biographischer Entwicklungen. Als handelte es sich bei der Sozialisation um Fragen geschickter Programmierung, statt um verlässliche und unterstützende Begleitung in unabsehbaren und prinzipiell offenen Individuierungsprozessen. Da hat sich wohl die entmenschlichende Rede vom 'Spielermaterial' doch schon allzu weit in die Strukturen der 'Talentschmieden' und in die Hirne am Ambos eingegraben. Wie es zu erwarten möglich war, dass auf diese Weise per Vorschlaghammer permanent vergleichender Leistungsüberprüfung dereinst eigenständige Fußballspieler*innen den Rasen betreten werden, ist angesichts pädagogischen Wissens selbst schon eine historische Aufarbeitung wert! Aber zuvor würde ich doch lieber eine entsprechende Untersuchung für das Schulsystem bevorzugen. Denn dort geht es auch offiziell um unsere Demokratie, zu welcher der Vereinsfußball im Kiez oder auf den Dörfern bestimmt noch immer mehr beiträgt, als die schulische Umdeutung ungleicher Voraussetzungen des Schulbesuchs in Leistungsunterschiede.

Vielleicht nicht das wichtigste, aber gegenüber all diesem Rückstand gegenüber dem bestehendem sozialen Reflektionsniveau muss man vielleicht doch nochmal darauf hinweisen, dass die in solchen Systemen geglaubte ‚Begabungsideologie‘, ein anachronistischer Essentialismus darstellt, dessen Ähnlichkeit zum strukturellen Talentrassismus von den Trainer*innen bestimmt in bester Absicht in der alltäglichen Kommunikation vermieden wird. Das Talent, dass dann die Würde eines Menschen bestimmte, wäre demnach eine unveräußerliche Gabe oder Gnade – von wem auch immer, vielleicht von der Lotterie der Natur? Ein solches Privileg würde dann die feudalen Einkommen rechtfertigen? Jedenfalls weißen die oben schon angesprochenen Forschungsergebnisse in diese Richtung: Ich gehe nicht davon aus, dass die Trainer*innen solche Assoziationsmöglichkeiten zum Rassismus nicht umgehen. Wie in der Schule: Das aufrichtigste Engagement von Trainer*innen und Lehrkräften kann in den falschen Strukturen schon mal hinter dem Rücken der Beteiligten in sein Gegenteil kippen. Ich halte es für einen Glücksfall, dass die Studie aus Kaiserslautern kommt. Aber könnte es sein, dass die Ergebnisse nicht nur für den FCK bedenkenswert sein könnten?



Beitragvon Standfußballer » 10.07.2023, 17:03


Beim Lesen dieses Beitrages fühlte ich mich spontan an das Interview mit Mario Baßler beim Doppelpaß erinnert. Hier die von mir gemeinte Passage:
https://www.youtube.com/watch?v=JHo-HGw ... nel=SPORT1

Wenn man bedenkt, daß das Interview schon über 5 Jahre alt ist, hat da Baßler den Nagel auf den Kopf getroffen.



Beitragvon Devil's Answer » 10.07.2023, 20:16


Fussball - die schönste Nebensache der Welt.
Sollte es bleiben, bis man soweit ist (körperlich, mental, charakterlich), sich wirklich - fast - ausschließlich dem Fussball zu widmen.

Ich hoffe unser NLZ ist in der Lage, aus dieser Studie die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Interessant auch, dass - natürlich - Freiburg und Mainz entsprechend und damit erfolgreich arbeiten.
Oooooh, Baby, Baby, it's a wild world



Beitragvon salamander » 10.07.2023, 22:01


Tolles Interview, ausführlich und auf den Punkt nachgefragt. Und natürlich mit sehr interessanten Inhalten und Thesen. Dass mit Mainz und Freiburg 2 Mittelstädte ohne riesige Fussballtradition über Jahre hinweg zwischen den ganzen Geld- u d Werksclubs mitspielen, ist kein Zufall.



Beitragvon Alex76 » 10.07.2023, 22:38


Spannendes Thema und auch sehr komplex. Von daher ist die wissenschaftliche Studie mit ihren Ergebnissen interessant, die hoffentlich zu einer entspannten Haltung einiger überambitionierten Eltern führen sollte.

Aus dem Interview lese ich eine These heraus, dass leistungsstarke Talente in frühen Kindheitsjahren im Laufe der Zeit in einem Nachwuchsleistungszentrum eher stagnieren und letztlich in den höheren Jugenden von damals weniger starken Gleichaltrigen überflügelt werden. Menschlich und auch kindlich nachvollziehbar, da die Motivation den Fokus konstant auf den Fußball zu richten schwierig ist. Der Konkurrenzdruck ist hoch. Die Präferenzen zwischen Taktik und Individualität verschieben sich. Zudem ist die körperliche Entwicklung nicht vorhersehbar und der Jugendspieler erst zu Beginn einer Profikarriere ausgewachsen.

Positiv betrachtet geht es beim Fußball im NLZ um Spaß, Freude und Leistungsanspruch (Ehrgeiz), den Jugendliche selten anderweitig erleben können. Einige Spieler kommen aus ländlichen Strukturen, wo die sportliche Infrastruktur nicht ausgebaut ist, so dass das Nachwuchsleistungszentrum in Kombination mit den Partnervereinen eine sehr gute Alternative ist potentielle Talente zu fördern. Das Prädikat NLZ-Spieler gewesen zu sein, ist für die berufliche Zukunft meines Erachtens eher förderlich. Und gelebte Werte wie Fairplay, Kameradschaft, Freundschaft, Leistungsbereitschaft, Schule und Bildung sind für die Gesellschaft bereichernd.

Von außen betrachtet scheint es Reformbedarf zu geben, um einerseits die Leistungsfähigkeit und Durchlässigkeit zu den Profis zu erhöhen. Andererseits geht es darum das „sportliche Scheitern“ psychisch zu verarbeiten. Wie oben beschrieben sehe ich das Prädikat NLZ als Referenz sehr positiv, wenngleich die Entwicklung des NLZ zu einem lern- und ausbildungsfreudigen Begegnungsort vollzogen werden sollte, so dass jeder Spieler sich einen Plan B erarbeiten kann, sofern dies noch nicht geschehen sein sollte.



Beitragvon Sebastian » 11.07.2023, 08:17


Sehr spannend, auch persönlich, weil ich im Unterbau eines NLZ tätig bin (aber nicht hauptberuflich). Den Punkt „parallele Sportartausübung“ kann ich nur unterstreichen. Wer viel mit den Kindern und Jugendlichen zusmamen ist, erkennt, wer zum Beispiel noch etwas wie Judo oder einen Kampfsport macht, die Beweglichkeit ist einfach eine andere. Auch die frühzeitige Festlegung auf einen Platz auf dem Feld hemmt Entwicklung in meinen Augen - wir hatten einen Spieler, der ein wirklich guter Torhüter ist (damit meine ich nicht, dass er mal in den Profibereich kommt, aber Verbandsliga hat er sicher drauf und da spielen guten Torhüter), aber irgendwann keine Lust mehr hatte. Er wollte wieder im Feld spielen. Wenn ich ihn nun ans Tor gekettet hätte, wäre er nach 3 Wochen nicht mehr gekommen.

Auch deshalb bin ich gegen ein zu frühes Einbeziehen ins NLZ, denn 4 mal Training in der U12 und dann ein Spiel am Wochenende, eventuell noch auf einer Position, die persönlich weniger Spaß macht, dann stockt die Entwicklung, die Lust und viele hören auf. Und ja, es fehlt die Zeit, um andere Interessen zu wecken, ob es Musik ist oder Bücher, ein anderer Sport oder Schule - das hat Jan Rosenthal vor ein paar Wochen gesagt: Es ist wichtig, auch als Profi neben dem Fußball etwas zu haben, worin man aufgeht. Daher: Lasst den Kindern und Jugendlichen Raum, um sich zu entwickeln. Kaserniert sie nicht ein. So entstehen für mich Spieler, die nachher eben nur den Plan A haben. Keine Kreativität für Plan B.
Zuletzt geändert von Sebastian am 11.07.2023, 09:33, insgesamt 1-mal geändert.
Bunt ist das Dasein und granatenstark!



Beitragvon Betzegeist » 11.07.2023, 09:19


Wenn ich mir überlege was die Kinder und Jugendlichen alles opfern, nämlich ihre Kindheit und Jugendzeit. Und dann kommt einer von Tausend durch...

Eltern die ihre Kinder mit 12-15 Jahren aus ihrem familiären Umfeld herausreißen und sie in eine fremde Stadt ins Internat und NLZ schicken. Und dann kommt einer von Tausend durch...

Wem das nicht zu denken gibt und wer da keinen Reformbedarf sieht bei den Vereinen und Verbänden, dem ist wirklich nicht zu helfen.

Von daher müsste man als FCK, der über wenige Mittel verfügt, ja zwingend an vorderster Front sein, wenn es darum geht alternative Ausbildungsmethoden umzusetzen.
Stagnation ist Rückschritt.
Nicht wahr, Thomas Hengen?



Beitragvon Hessischer Aussenposten » 11.07.2023, 09:53


Als lizensierter Trainer einer E-Jugend (jüngerer JG 2014) im leicht ambitionierten Amateurbereich (1. Mannschaft spielt Gruppen-/Verbandsliga in Hessen) würde ich alle im Interview gemachten Aussagen zu 100% unterschreiben. Das deckt sich mit meinen Eindrücken und Erfahrungen.

Wir haben im direkten Einzugsgebiet 5(!) NLZ-Vereine und wir als Verein haben uns jetzt für die Strategie entschieden, möglichst gut und produktiv mit den NLZ zusammen zu arbeiten, da man als Amateurverein von dem NLZ-Systen (von 1.000 fallen ja auch 999 durch) ja auch profitieren kann.

Der unausgesprochene Deal ist, man gibt die talentierten Kinder, denen man als Breitensport-Verein irgendwann im Trainings- und Spielbetrieb qualitativ nicht mehr gerecht werden kann, in die NLZ in der Hoffnung, dass man einen Teil davon für den Amateurbereich irgendwann (spätestens nach der U19) gut ausgebildet wieder zurück bekommt.

Klar ist es manchmal mega frustrierend, dass man quasi nie länger als eine Saison mal mit einem qualitativ gut und tief besetzten Kader arbeiten kann. Aber das gehört eben zum "Job"profil Jugendtrainer dazu.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch immer wieder Kinder bzw. Eltern, die trotz NLZ-Wechselangeboten weiterhin im "eigenen" Verein mit "ihren" Trainern, ihren Schulkameraden und Kumpels vor Ort Fußball spielen möchten. Mein Mit-Trainer und ich betreuen die Jungs jetzt schon seit der G-Jugend und wir haben zu allen menschlich einen guten bis sehr guten Draht. Das ist auch was wert und es ist ein schönes Zeichen der Wertschätzung unserer eigenen Arbeit, wenn sich Kinder aus solchen Gründen gegen einen möglichen NLZ-Wechsel entscheiden.

Und bei denen, die sich "gegen" uns entscheiden, versuche ich auch, den Kontakt einigermaßen zu halten und hin und wieder auch mal zu ihren NLZ-Spielen zu fahren. Die freuen sich immer, wenn der alte Trainer vorbeikommt. Klar, das kostet alles viel Zeit, Energie und auch eigenes Geld (wir Trainer bekommen in unserem Verein bis auf die übliche Aufwandsentschädigung von 50 EUR pro Trainerteam und Monat nix). Aber so kann man die Kinder auch weiter an den eigenen Verein binden, damit sie, wenn die Möglichkeit mal bestehen sollte, den Weg in den eigenen Verein zurück finden und nicht zu einem anderen Amateurverein wechseln. DAS wäre für mich eine echte Enttäuschung.

Manchmal denke ich auch, dass Gastspielrechte hin und wieder in einigen Situationen helfen könnten, den Kindern gerecht(er) zu werden.
Gruß vom HAP
"... Von dem Angebot (von Preston North End) hätte ich damals halb Vogelbach kaufen können. ... Ich weiß, das versteht heute niemand, dass ich nicht gewechselt habe. Aber ich hätte sogar Geld gezahlt, um in Kaiserslautern spielen zu dürfen." (FCK-Legende Horst Eckel)



Beitragvon jürgen.rische1998 » 11.07.2023, 10:05


Hochinteressanter Beitrag in allen Facetten. Zum Thema "Zweitsportart". Gerade zum Meisterschaftsjubiläum gab es in der entsprechenden Serie eine Beitrag in der Rheinpfalz über Miro Kadlec indem erwähnt wurde seine geniale Übersicht käme auch daher weil er neben Fussball auch Eishockey gespielt hat. Passt ja dazu.

Ansonsten kann man nur hoffen, dass sich am System in vielen NLZ etwas ändert. Das ist ja schon sehr krass wie viele junge Menschen da auf der Strecke bleiben und dann damit klar kommen müssen...
Omnia vincit amor



Beitragvon Seit1969 » 11.07.2023, 10:15


Wir als Eltern sind heilfroh das unser mittlerweile A-Junioren spielender Sohn, nicht ins NLZ zum FCK oder Saarbrücken gewechselt ist.
Genauso froh auch darüber das er seine A-Juniorenzeit voll ausspielt und nicht den verlockenden Angeboten, bis hin zur Verbandsliga, bereits 1 Jahr früher in den Seniorenbereich zu wechseln, erlegen ist. Erst sein Abi und die super A-Juniorentruppe hier fertig auskosten. Danach kommt alles andere.
Andere negative Beispiele von enttäuschten und frustrierten Freunden, Mitspielern und Mitschülern haben ihm sicher dabei geholfen und die Augen geöffnet.
Fly with the eagle or scratch with the chicken



Beitragvon Seit1969 » 11.07.2023, 10:29


Thema Zweitsportart erinnert mich an mein längeres Gespräch auf dem Fröhnerhof mit dem damaligen NLZ-Leiter Konrad Fünfstück.
Er erzählte von den quälenden Diskussionen in Fürth mit den Eltern über seine ca. 30 minütigen Warmmachphasen und ausgiebigen Elementen aus dem Turnen und Gymnastik.
Tenor: Die Kindern wären ja zum Fussball da und nicht in der Turnabteilung.
Fly with the eagle or scratch with the chicken



Beitragvon die 80er » 11.07.2023, 10:34


Finde den Bericht gut.
Unser Sohn als Beispiel war hier auch mal ein halbes Jahr beim DFB Stützpunkt, als Torhüter.
Könnte noch in der D-Jugend gewesen sein.
Er war in dieser Zeit im Vergleich zu den anderen noch recht klein, heute auch 1,80 + X groß :lol:
Er hatte es damals mit seiner Sprungkraft wettgemacht.
Nach einem halben Jahr haben sie ihn aussortiert.
Ohne Vorwarnung, ohne mal ein Gespräch vorher, war gut dass ich auch bei dem Training war, dann haben sie es mir nach dem Training gesagt.
Er braucht das nächste Mal nicht mehr kommen!
Ohne dass er sich von seinen Mitspielern verabschieden konnte etc. Einfach raus. Punkt.
Wie gesagt, wäre ich nicht da gewesen hätten sie es ihm gesagt, quasi so wie mir.
Das fand ich in der Art und Weise "beschissen".
Fadenscheinige Gründe, zu klein, als Torwart auf die eine Seite bezogen eine Schwäche, etc.
Hätte mir gewünscht dass man mal da vorher was gesagt hätte, dass er sich hätte verbessern können, etc.
Für ihn war es gut, er war dort weil er so gut war, aber auch noch andere Interessen hatte, Musik, Hockey,..
heute spielt er im 2ten A-Judendjahr im Feld, ist sauschnell. Auch dazu, damals hatten sie ihn nicht im Feld gesehen, statt mal auszuprobieren...
Festgefahren.
Eine Förderung der kicker , auch andersweitig sehe ich als extrem wichtig an, sowas sollte man erkennen, und den Jungs auch Tipps geben. Hier werden Spieler ,meiner Meinung nach sehr früh in eine "Positionsschublade" gesteckt, ohne mal gezielt anderes auszuprobieren.
Denke das führt dann zu den Spielern wie wir sie heute häufiger haben, ich nenne es mal "eingeschränkt".
Und so verstehe ich auch den Bericht, nicht offen über den Tellerand hinausblickend.
Wie soll das auch geschehen?
Beim DFB jetzt, mit Völler, Rummenigge und Co, kann ich es mir nicht vorstellen.
Wenigstens ist die Fönwelle Bierhoff weg :lol:
Fände es gut wenn hier andere Leute von der "Basis" mehr eingebunden wären,
durchaus auch jemand wie Stefan Kuntz.
Meine Gedanken zu dem Thema...



Beitragvon Mittelhaardt » 11.07.2023, 13:13


Hessischer Aussenposten hat geschrieben:Manchmal denke ich auch, dass Gastspielrechte hin und wieder in einigen Situationen helfen könnten, den Kindern gerecht(er) zu werden.

https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%B6rderlizenz
Sowas?



Beitragvon Tavlaret » 11.07.2023, 18:25


Selbst wenn die Fußballer schon extrem weit gekommen sind, schaffen sie es nicht.
Wir haben 3 A-Junioren-Bundesligen, bei denen werden jedes Jahr ca. 600 Spieler für die Jugend zu alt und spielen dann bei den Erwachsenen.
Von den 600 kommen vielleicht 15 in die Bundesliga - das heißt aber nocht nicht, dass die Karriere klappt.
Insgesamt kommen ca. 50 im bezahlten Fußball unter (1. - 3. Liga). Zuerst mal, ob die bleiben können, weiß man noch nicht.
Das heißt, 550 von der Crème de la Crème wird Regionalliga, Oberliga oder darunter spielen.
Für viele Familien ist das ein Drama, die haben jahrelang alles für den Sprößling und seine "Karriere" getan, auf vieles verzichtet und tausende von Kilometern haben sie ihn herumchauffiert.
So ist das halt. Schön, wenn man eine sichere Entwicklungsmethode finden könnte. ;-)
Auch in der A-Junioren-Nationalmannschaft spielen immer etliche Fußballer, die es oft nicht in den bezahlten Fußball schaffen und das ist schon die Superauswahl der Crème.
(Die Zahlen oben sind "ca." gemeint, es sind jedes Jahr mal ein paar mehr oder ein paar weniger)
Wer kämpft kann verlieren ... wer nicht kämpft hat beim FCK nichts verloren.



Beitragvon Miggeblädsch » 11.07.2023, 18:50


Vielen Dank an @Eric Scherer und @Professor Dr. Arne Güllich für dieses erschreckend aufschlussreiche Interview.

Die Erkenntnisse dieser Studie in Bezug auf die Entwicklung junger Menschen, die schon in frühem Alter leistungsorientiert und eingleisig die Zukunft als Profifußballer anstreben und ihr komplettes Leben danach ausrichten, waren mir -vom Prinzip her- bekannt. Dass nicht viele, die das NLZ eines Bundesligisten durchlaufen haben, später auch einen Profivertrag erhalten, war mir auch klar. Aber dass sich eine solch geringe Quote ergeben würde, erschreckt mich dann doch.

Interessant wäre es zu erfahren, wie hoch die Quote derer ist, die älter als 14 sind. Die sollte (hoffentlich) wesentlich höher sein. Ich habe das so verstanden, dass bei dem 1 Promille-Ergebnis auch diejenigen mitgezählt werden, die sehr jung ins NLZ kamen und abgebrochen haben, bevor sie 15 waren.

Ich beobachte die Thematik gerade bei meinem Patenkind. Der Kleine ist 10 und kann richtig gut kicken! Er wohnt mit seinen Eltern in Schopfheim, nicht weit weg von Freiburg. Sein Trainer kam auf seinen Vater zu und hat ihm empfohlen, den Kleinen künftig bei einem anderen Verein (aber auch in der Nähe von Schopfheim) spielen zu lassen, da er dort besser trainiert wird (4xTrainig die Woche) und die Scouts vom NLZ des FC Freiburg dort regelmäßig Talente sichten und die Besten in ihr NLZ holen. Jetzt spielt er in diesem "Sichtungsverein" und träumt auch schon von der Profikarriere. Mit 10!

Seine Eltern haben zb. Donnerstags ihren Kampf, dem Jungen die Dringlichkeit der Montags anstehenden Klassenarbeit in Mathe zu vermitteln, wenn doch am Sonntag ein Spiel ansteht, bei dem Freiburger Scouts vor Ort sein sollen. Das führt natürlich dazu, dass mein Patenkind Freitags nach der Schule und Samstags komplett es als wichtiger erachtet, auf dem nahegelegenen Bolzplatz ein paar Freistöße einzuüben. Wichtiger als Mathe jedenfalls. Es geht hier schließlich um höhere Angelegenheiten!

Das wollte ich nur mal kurz aus meinem privaten "Nähkästchen" zur Diskussion um junge Menschen im NLZ beisteuern.

Übrigens: Die Gefahr der drohenden feindlichen Übernahme eines jungen Fußballherzens hatte ich als Patenonkel rechtzeitig erkannt und den Kleinen mit auf den Berg genommen. Letztes Jahr vor der Saison auf's Pokalspiel gegen Freiburg. Der war richtig angepisst, dass die Freiburger gewonnen haben.

Seitdem ist er FCK-Fan, also läuft schonmal in dieser Richtung alles gut. :teufel2:

... und die Sache mit Mathe kriegen wir auch hin 8-)
Jetzt geht's los :teufel2:



Beitragvon Rickstar » 11.07.2023, 20:47


Sorry, aber dieses Wissen ist doch nicht neu. In anderen Sportarten wird seit mittlerweile circa 50 Jahren dazu geforscht. Das erinnert mich an Klinsmann, der Standardubungen der 80er aus anderen Sportarten in den 2000ern in den Fussball gebracht hat. :lol:



Beitragvon Sebastian » 12.07.2023, 08:12


Ja, das ist heute noch so - wenn man mal über den Tellerrand schaut (ich lese auch zur Trainingslehre anderer Sportarten, um Abwechslung etc. reinzubringen) und dann etwas anbietet, kommen von den Eltern regelmäßig Rückfragen. Dabei ist bei mir IMMER ein Ball mit dabei, Übungen ohne Ball sind bei mir kaum dabei. Trotzdem heißt es "die sollen doch schießen lernen!" ...
Bunt ist das Dasein und granatenstark!



Beitragvon 71198 » 12.07.2023, 09:38


Hat jemand den Link zu dieser Studie? Ich finde da ehrlich gesagt nichts Neues auf den gängigen Plattformen wie ResearchGate. Vielen Dank! :)




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