Rückblick: Stadion-Katastrophe von Hillsborough

Als der Fußball seine Unschuld verlor

Als der Fußball seine Unschuld verlor

Foto: superbfc / GNU

Fast 20 Jahre ist es nun her, das eine der schwersten Stadion-Katastrophen blankes Entsetzen in die Welt des Fußballs und darüber hinaus brachte. Am 15. April 1989 starben im Hillsborough-Stadion im nordenglischen Sheffield 96 Menschen, annähernd 800 weitere Fans wurden verletzt. Damit ging ein Jahrzehnt zu Ende, dass bereits im Mai 1985 - ausgelöst durch die sinnlose Randale von Liverpool-Hooligans - 39 Tote beim Europapokalfinale in Brüssel gegen Juventus Turin brachte und im gleichen Monat weitere 56 Tote bei einem Tribünen-Brand in Bradford. In beiden Fällen gab es ebenfalls Hunderte von Verletzten. Die 1980er Jahre: Irgendwo also auch ein Jahrzehnt der schrecklichen Stadion-Katastrophen.

Es war ein frühlingshafter Tag im Jahre 1989, in Sheffield stand das Halbfinale des FA-Cups zwischen dem großen FC Liverpool und Nottingham Forest an. Die favorisierten „Reds“ brachten, wie eigentlich immer, eine große Anzahl eigener Fans mit nach Sheffield, von denen viele allerdings über keine gültige Eintrittskarten für das längst ausverkaufte Stadion verfügten. Tausende hatten die Hoffnung, vor dem Stadion auf verschiedenen Wegen doch noch an Tickets zu kommen. Noch etwa 30 Minuten vor Anpfiff gab es keinerlei Anzeichen für irgendwelche Probleme. Zwar füllte sich der Liverpool-Fanblock nun merklich, doch vor dem Stadion waren alle dort noch verweilenden Anhänger bester Stimmung. Bis, ja bis weitere Liverpool-Anhänger ohne Eintrittskarte Richtung Stadion stürmten. Vorbei an den regulär wartenden Fans mit gültiger Eintrittskarte. Es kam sofort Unruhe auf. Die Polizei machte ob der vielen Tausenden, nun unmittelbar vor dem Stadioneingang zusammen gepferchten Fans, einen hilflosen Eindruck und unternahm zunächst nichts.

Viele rüttelten nun an den Zäunen und wollten auch ohne Eintrittskarte ins Stadion hinein, obwohl der Gästeblock hinter dem Tor im Stadion schon fast voll war, was von den Fans aber niemand wissen konnte. Die überforderte Polizei öffnete unter diesen Eindrücken bald darauf ein zusätzliches Eingangstor und ließ dort unkontrolliert zahllose weitere Fans (also auch solche ohne gültige Eintrittskarte) ins Stadion hinein, obwohl der Block bereits überfüllt war. Schon im Tunnel unmittelbar hinter dem Gästeblock stauten sich Hunderte von Menschen, kamen nicht mehr vor und zurück. Es machte sich erste Panik breit, während die nichts ahnenden Fans im hinteren Bereich immer weiter aufrückten, obwohl der Liverpool-Block nun bereits aus allen Nähten platzte. Die Katastrophe nahm ihren Lauf, als trotz Sicherheitsbedenken der Polizei das Spiel pünktlich angepfiffen wurde - die Menschen wollten nun natürlich erst recht ins Stadion, um ihre Mannschaft zu unterstützen. Bereits jetzt starben die ersten Fans, die am Zaun am Spielfeldrand regelrecht erdrückt wurden oder selbst im Stehen infolge der Atemnot zu Tode kamen. Trotz verzweifelter Hilferufe der anderen Fans öffneten Polizei und Ordner die Tore zum Spielfeld nicht, zu groß war wohl die Angst vor einem Platzsturm. Bei Platzstürmen in den 1970er und 1980er Jahren hatte man viele Verletzte beklagen müssen.

Das Spiel wurde nach sechs Minuten zunächst unter- und dann sehr schnell ganz abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits zahlreiche Tote und Schwerverletzte zu beklagen. Die Tore zum Spielfeld blieben jedoch verschlossen. Als endlich nach knapp 30 Minuten die Polizei einschritt und zumindest die nachdrängenden Fans draußen vor dem Stadion auseinander trieb, war die Katastrophe nicht mehr zu verhindern. Der Zaun zum Spielfeld brach nun unter Last des Druckes von oben zusammen. Ungefähr zur gleichen Zeit trafen mit viel zu großer Verspätung die ersten Rettungswagen am Ort des Geschehens ein. Es bot sich - beobachtet von den TV-Kameras - ein Bild des Schreckens. 96 Menschen, die sich nur ein Fußballspiel ihres geliebten FC Liverpool anschauen wollten, starben, viele Hunderte wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Noch Stunden später hörte man die Sirenen von Polizei- und Krankenwagen, die immer noch Verletzte in die umliegenden Krankenhäuser fuhren. Tiefe Trauer setzte nun in einer weltweiten Solidaritätsaktion für die Opfer dieser Katastrophe ein.

Wenige Tage nach dem Drama von Hillsborough, als die komplette Fußballwelt Trauer trug, setzte die Boulevardzeitung „The Sun“ noch einen drauf und veröffentlichte einen skandalösen Artikel. Demnach hätten betrunkene Fußballfans die Rettungskräfte angegriffen, auf Polizisten und Leichen uriniert und ein totes Mädchen missbraucht. In Folge dieser infamen Berichterstattung kam es zu energischen Protesten, die sich bis heute, 20 Jahre später, fortsetzen: So weigern sich speziell im Großraum Liverpool viele Zeitungshändler, die „Sun“ zu verkaufen, die Auflage in der Region sank dauerhaft von 240.000 auf 12.000. Noch heute zeigen die Liverpool-Fans häufig Plakate gegen die Boulevardzeitung, ebenso wie jährlich der 96 Opfer von Hillsborough gedacht wird.

In der Folge dieser Stadion-Katastrophen der 1980er Jahre, und endgültig nun nach dem Desaster von Sheffield, das auch unter dem Aspekt einer weitgehend versagenden Polizeieinsatzleitung zu sehen war, entwickelte sich der Fußball in den kommenden Jahren in eine völlig neue Richtung. Die Stehplätze wurden in England genauso zügig wie rigoros abgeschafft, es wurden fast nur noch Sitzplätze verkauft. Andere Länder sowie FIFA und UEFA folgten diesem Trend. Die Stadien wurden modernisiert, sicherer gemacht, auch wenn dadurch die bis dato einmalige Stehplatz-Atmosphäre nie mehr hergestellt werden konnte. Dafür gab es solche Katastrophen aber eben in der Folgezeit auch nicht mehr. Da die Sitzplätze gerade in England erheblich teurer wurden als die Stehplätze, konnten sich viele bisherige Fans den Stadionbesuch bald nicht mehr leisten. Das Publikum wurde also quasi ausgetauscht, zumindest in großen Teilen gab es nun auch mehr und mehr „Event-Fans“ in den Stadien, die nicht mehr diese Leidensfähigkeit für ihren jeweiligen Verein mitbrachten wie langjährige, treue Fans, für die nun der Eintritt zu teuer geworden war. Damit hoffte man auch die gewaltbereiten Hooligans in ihrem Treiben einzudämmen, die jedoch zumindest für die Katastrophe von Sheffield nicht in erster Linie verantwortlich waren.

Immer häufiger sah man nun auch große Gruppen an Frauen und ganze Familien in Stadien, was gerade im England der 1980er Jahre eher selten war. Der Fußball ist also bunter und insgesamt sicherer geworden als damals, hat allerdings auch viel an Stimmung und Flair eingebüßt. Das ist der Preis der Sicherheit, obwohl man nicht der Illusion erliegen sollte, dass es eine hundertprozentige Sicherheit jemals geben wird.

Rückblickend hat die Stadion-Katastrophe von Hillsborough nicht nur den Fußball nachhaltig verändert, sondern auch allen vor Augen gehalten, wozu menschliches Versagen führen kann - egal ob von Seiten der Fans, der Offiziellen, der Polizei, der Rettungskräfte oder der Medien.

Quelle: Der Betze brennt | Autor: Altmeister

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