Über'n Tellerrand


Warum Union für den FCK ein Quell der Inspiration ist


Warum Union für den FCK ein Quell der Inspiration ist


Mit Union Berlin mischt endlich wieder mal ein echter "Underdog" die Bundesliga auf - in einer Art und Weise, die vor langer Zeit einmal den 1. FC Kaiserslautern ausgezeichnet hat. DBB-Autor Eric hat sich dieses Phänomen genauer angeschaut.

In der Saison 2004/05 kickte Union Berlin in der Regionalliga Nord, der FCK in der Bundesliga. 2009/10 begegneten sich die Klubs zum ersten Mal in der 2. Bundesliga. Danach verabschiedete sich Lautern für zwei Jahre ins Oberhaus. Ab 2012 traf man sich wieder regelmäßig in Liga 2 - bis 2018. Da stieg der FCK in die 3. Liga ab - und Union ein Jahr später in die Bundesliga auf. Im zweiten Jahr nun stehen die "Eisernen" nach der Hinrunde überraschend auf Rang 5. Lautern kämpft in Liga 3 gegen den Abstieg.


Wieder ein Verein, der in den vergangenen Jahren am pfälzischen Traditionsklub vorbeigezogen ist. "Na und?", werden jetzt einige fragen, "ist doch nur einer von vielen." Eben nicht. Union Berlin ist eben kein Verein von vielen. Die "Eisernen" haben ihren Aufschwung nicht wie andere der jüngeren Vergangenheit mit den Millionen eines Großinvestors geschafft, sondern selbst erwirtschaftet - oder sich Geld gepumpt, unter anderem von "Quattrex". Wie der FCK also, nur haben die Berliner damit offensichtlich mehr erreicht.

Wagenburgmentalität? Das kommt FCK-Fans irgendwie bekannt vor

Dennoch steht der Tabellen-5. mit einem Kader im Wettbewerb, der laut "transfermarkt.de" die zweitniedrigsten Marktwerte der Bundesliga aufweist. Als ihr wichtigstes Erfolgsgeheimnis wird ein einzigartiger Zusammenhalt zwischen Fans, Vereinsführung, sportlicher Leitung und Mannschaft genannt. Oft ist von "Wagenburgmentalität" die Rede.

Einzigartiger Zusammenhalt? Wagenburgmentalität? Ältere FCK-Fans dürften da wehmütig und vielleicht auch ein wenig neidisch werden: Das ist doch genau das, was vor langer, langer Zeit auch ihrem Klub nachgesagt wurde. Und es finden sich leicht noch einige Parallelen mehr zwischen Lautern und Union.

Identität gründet auf Mythen - in der Pfalz wie an der Spree



Beider Identitäten gründen zu einem großen Teil auf Mythen. Beim FCK ist es die Legende von Fritz Walter, seinen frühen Meistermannschaften und den Helden von Bern. Bei Union Berlin ist es die Legende vom Malocherklub, der einst von Industrieschlossern gegründet wurde - deswegen werden sie ja "die Eisernen" genannt. Der in der ehemaligen DDR den geerdeten Kontrapunkt bildete zum übermächtigen Stadtrivalen und Stasi-Klub BFC Dynamo, der immer alles hatte und alles bekam - eine Gegnerschaft, vergleichbar mit der zwischen Lautern und Bayern in den 1990ern. Der ohnehin "der Klub der Andersdenkenden", sogar umstürzlerisch gepolt war. In den 1980er Jahren, als sich der Niedergang des Arbeiter- und Bauernstaats abzeichnete, sollen Union-Fans vor Freistößen ihrer Mannschaft lautstark "Die Mauer muss weg!" skandiert und so die anwesenden Gesinnungsschnüffler irritiert haben: War das nun sportlich und politisch gemeint?



Interessant: Wie Christoph Biermann in seinem lesenswerten Union-Buch "Wir werden ewig leben" unter Berufung auf Klubchronist Gerald Karpa erzählt, lässt sich der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten nicht immer zweifelsfrei belegen. Hier gilt der journalistische Grundsatz, der in dem John-Ford-Western "Der Mann, der Liberty Valance erschoss" festgehalten ist: "If the legend becomes a fact, print the legend."

Zweifellos wahr ist, dass im Jahr 2004 Union-Fans buchstäblich für ihren Verein bluteten: Sie initiierten eine Blutspende-Aktion, um ihn finanziell zu unterstützten. Und dass sie einmal 140.000 ehrenamtliche Arbeitsstunden leisteten, um einen großen Umbau an ihrem Stadion "An der Alten Försterei" zu bewerkstelligen.

Das K-Wort: In Lautern ersehnt, in Berlin gelebt



Identität allein schießt jedoch keine Tore. Was haben die Berliner in den vergangenen Jahren richtig gemacht, was auch der FCK hätte richtig machen können?

Da muss leider wieder mal das leidige K-Wort fallen, das am Betzenberg so gern strapaziert, aber schon seit 20 Jahren nicht mehr gelebt wird. Kontinuität. Und zwar auf allen Ebenen. Wobei natürlich auch vor der Alten Försterei die Gesetze des Geschäfts nicht völlig halt machen, aber eben nur, wenn es einen tieferen Sinn hat: So überraschte beispielsweise die Entlassung von Trainer Jens Keller Ende 2017 trotz Platz 4 im Unterhaus, aber sie war konsequent und wurde auf mittelfristige Sicht vom Erfolg bestätigt.

Aber zurück zur Kontinuität: Im aktuellen Bundesliga-Kader der Unioner stehen immer noch neun Spieler, die bereits 2018 dem Zweitliga-Kader angehörten, der den Sprung in die Bundesliga schaffte. Und das, obwohl er zwischenzeitlich durchaus auch verstärkt wurde, sogar mit zum Teil namhaften Kickern wie Neven Subotic, Max Kruse oder Christian Gentner. Beim FCK dagegen stehen aus dem nach dem Abstieg 2018 vollkommen neu formierten Kader noch vier Spieler im Kader - und das, obwohl seinerzeit ein langfristiger Neuaufbau angestrebt wurde.



Die sportliche Leitung: In Lautern viel Murks, in Berlin viel Urs





Auf der Trainerbank der Unioner sitzt als Nach-Nachfolger von Jens Keller seit 2018 der Schweizer Urs Fischer. Von 2007 bis 2014 durfte mit Uwe Neuhaus ein Coach sogar einmal sieben Jahre am Stück seinen Dienst tun. In Lautern dagegen schwingt aktuell der vierte Coach in drei Jahren das Zepter. Einer Schweizer Boulevardzeitung zufolge soll Fischer übrigens 2017, nachdem Norbert Meier entlassen worden war, auch mal auf dem Betzenberg Thema gewesen sein - wie nah dieses Gerücht an der Realität war, ist nicht bekannt.

Union-Klubchef Dirk Zingler schätzt an seinem Trainer, "dass er das spielen lässt, was die Jungs können. Er ist pragmatisch und überfordert den Kader nicht. Ich finde das gut, weil andere Trainer über sich lesen wollen, dass sie guten Fußball spielen lassen." Wie sehr Fischer bereit ist, auch seine eigenen Ansprüche stets den reellen Möglichkeiten anzupassen, ist in Biermanns Buch im Detail nachzulesen. Der Autor durfte das erste Bundesliga-Jahr der Unioner im Inneren des Klubs erleben. 

Fischer impft seinen Spielern ein, auf dem Platz zu allererst "eklig" zu sein. Anders vermögen sich "Underdogs" in einem Umfeld aus finanzstärkeren Klubs auch nicht zu behaupten, wie ältere FCK-Fans ebenfalls bestätigen können. Stellvertretend sei hier an den viel zu früh verstorbenen Hans-Günter Neues erinnert, den legendären FCK-Libero aus der ersten Feldkamp-Ära zwischen 1978 und 1982. Ein toller Kerl und Sportsmann, der auf dem Platz aber in erster Linie eins war: eklig.

Fischer kann anpassen - sich selbst und sein Team



Nach einem katastrophalen Start ins erste Bundesliga-Jahr krempelt Fischer seinen fußballerischen Ansatz vollkommen um. Er etabliert hinten eine Dreierkette, was er bei seinen Klubs zuvor noch nie getan hatte. Statt "gepflegt" von hinten raus lässt er lange Bälle auf einen "Wandspieler" kloppen, den Ex-Lautrer Sebastian Andersson, und richtet sein Augenmerk verstärkt auf Standardsituationen. Mit Erfolg. Der Underdog, als Absteiger Nummer 1 gehandelt, beendet die Saison 2019/20 auf Rang 11 - übrigens punktgleich und somit sportlich auf Augenhöhe mit dem selbsternannten "Big City Club" Hertha BSC mit seinem Großinvestor Lars Windhorst und Trainerstar Jürgen Klinsmann.

Vergangenen Sommer ist Sebastian Andersson nach Köln gewechselt, für ihn kam unter anderem Max Kruse, ein "spielender" Mittelstürmer par excellence. Fischer stellte seinen Stil erneut um, Union kickt nun "gepflegt" von hinten heraus - auch jetzt noch, nachdem Kruse mit einem Muskelbündelriss ausgefallen ist. 

Zudem variiert Fischer fortwährend und gekonnt seine Grundordnungen. Gegen die Bayern etwa formierte er sein Team vor vier Wochen in einem tief gestaffelten 4-1-4-1 - so, wie es Jeff Saibene aktuell in Kaiserslautern tut. Nur sah die Umsetzung bei Union vollkommen anders aus. Hinter der Mittellinie pressten die Berliner mit einer Aggressivität, die den Lautrern zurzeit abgeht. Und nach Ballgewinnen ging direkt die Post ab, weil Fischer in der offensiven Viererkette Spieler mit dem benötigten Tempo aufgestellt hatte, so hatte er beispielsweise seinen Stürmer Ingvartsen in diese Linie zurückgezogen. Am Ende hatten die Berliner dem Abonnementsmeister ein 1:1 abgetrotzt, das gut und gerne auch ein 2:1 werden konnte.


Ob der Pragmatiker Fischer nach einem neuen Torjäger rufen würde, wenn er vier Stürmer in seinem Kader wüsste, die in der Liga bereits nachgewiesen haben, dass sie treffen können? Er würde wohl eher eine Spielanlage suchen, die es dem vorhandenen Personal ermöglicht, seine Qualitäten wiederzuentdecken.

Fankultur vom Feinsten: Die Union-Familie und ihre vier Gebote



Doch nicht nur auf dem Platz machen die "Eisernen" gegenwärtig vieles besser. "Unser Stadionerlebnis ist der Kern unseres Daseins als Unioner", heißt es etwa im "Grundgesetz" des Klubs. Und das, obwohl auch in Berlin niemand bezweifelt, dass Sponsoren und TV-Gelder längst mehr Einnahmen bescheren als der "Live"-Besucher an der Alten Försterei. Doch steht er für die Klubführung nach wie vor an erster Stelle. Ein Gefühl, dass den Fans in der Lautrer "West" seit ein paar Jahren zunehmend abgeht. Für ihre Vereinswerte legen sich die aufmüpfigen Unioner auch mal mit dem DFB und anderen Obrigkeiten an, dabei sei etwa an die Rolle des Vereins bei den Fan-Protesten 2012 oder 2018, als die Köpenicker schon weit vor der Corona-Krise einen Kurswechsel im Profifußball forderten.

Und die Fans selbst? Die leben nach vier "Geboten", die ein Fan namens Daniel Blauschmidt, genannt "Boone", einst aufgeschrieben hat:



- Mache nie ein Spieler zum Sündenbock
- Pfeife nie die Mannschaft aus
- Verlasse nicht vor dem Schlusspfiff das Stadion
- Heiserkeit ist der Muskelkater des Unioners


Das Lautrer Eigengewächs Fabian Schönheim, der sieben Jahre als Profi bei Union unter Vertrag stand und aktuell in der FCK-Geschäftsstelle hospitiert, kann bestätigen, dass diese Gebote auch gelebt werden: "Ich kannte dies zu großen Teilen noch von unseren FCK-Fans", erinnert er sich. Schönheim kann aber auch verstehen, dass die kritiklose Gefolgsamkeit des Anhangs in den vergangenen Jahren gelitten hat: "Die Fans in den vergangenen Jahren durch die Abstiege und die Querelen im Umfeld schwer belastet worden. Aber ich würde mir wünschen, dass wir wieder dahin gekommen." Wäre doch eine schöne Anregung für den Tag, an dem sich die Stadiontore wieder für zahlende Zuschauer öffnen.

Und noch ein Rat an Funktionäre und Investoren: Schweigen ist Gold


Auch an die Adresse der FCK-Funktionäre und -Investoren seien noch ein paar Sätze aus Biermanns Buch zitiert. Der Verein wird fast ausschließlich von Christian Arbeit repräsentiert, der als "Geschäftsführer Kommunikation" auch als Stadionsprecher fungiert. "Gelegentlich war es nötig, dass Dirk Zingler (der Präsident; Anm. d. Red.) das Wort ergriff, was er aber so selten wie möglich tat", schreibt Biermann. "Finanzmann Oskar Kosche äußerte sich öffentlich so gut wie nie, und das galt auch für die anderen Mitglieder in Präsidium und Aufsichtsrat." Und der Ur-Lautrer Harald Layenberger etwa wurde als Hauptsponsor bekanntlich wesentlich herzlicher in die Union-Familie integriert, als dies den Verantwortlichen am Betze jemals gelungen ist.

Man sieht: Union Berlin 2020/21 ist für den FCK 2020/21 ein munter sprudelnder Quell an Inspiration. Auf allen Ebenen.

Quelle: Der Betze brennt | Autor: Eric Scherer

Kommentare 31 Kommentare | Empfehlen Artikel weiter empfehlen | Drucken Artikel drucken