Kummt Senf druff

Wie der Betze jetzt alle mitreißt

Wie der Betze jetzt alle mitreißt


Nicht nur der 1. FC Kaiserslautern, auch der Betze is widder do. DBB-Autor Marky über das Comeback eines berüchtigten Stadions.

Es gibt auf "YouTube" diese Videos von Menschen, die dabei gefilmt werden, wenn sie besondere Dinge angucken, die sie entweder verängstigen, schocken oder ausflippen lassen. Dirk Schuster könnte auch so einen Beitrag hochladen, der sicher viele Klicks bringen würde. So zeigte der SWR am Sonntag in seiner abendlichen Sportsendung, wie Schuster das 3:2 durch Kenny Prince Redondo gegen Darmstadt erlebte. Am ganzen Körper. Sein Oberkörper wogte in dieser 87. Spielminute hin und her, der Kopf ging nach vorne, die Augen wurden immer größer. Die Lippen öffneten sich, aber es kam kein Wort aus seinem Mund. Die Arme gingen nach oben, blieben aber auf halber Strecke hängen. Schuster setzte zum Sprung an, aber die Beine machten nicht mit.

Man muss sich jetzt um die Gesundheit des FCK-Trainers keine ernsthaften Sorgen machen. Schuster erlebte unter vollem Bewusstsein den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die in der zurückliegenden Drittliga-Saison, damals noch unter Trainer Marco Antwerpen, ihren Anfang nahm. Im Derby gegen Saarbrücken, beim ersten vollen Haus nach der Corona-Pandemie, verlor der FCK in der zweiten Halbzeit kaum einen Zweikampf - trotz eines Mannes weniger. Terrence Boyd brachte den Betze zum Ausrasten. Es schien, als komme eine alte Maschine wieder in Gang, die Fußball-Deutschland über Jahrzehnte in Angst und Schrecken versetzt hatte und die Wunder in Serie fabrizierte.

Im Relegationshinspiel gegen Dresden stellte sich Boyd beim Warmmachen vor die Westkurve. Auge in Auge - und die Fans vor ihm brüllten ihm so ohrenbetäubend entgegen, dass der FCK-Stürmer in eine sekundenlange Trance zu fallen schien. Später bezeichnete er die Atmosphäre gegen Dynamo liebevoll als "geisteskrank".

Es folgte mit dem Heimspiel gegen Hannover die Rückkehr in die Zweite Liga. Den Roten Teufeln gelang der Siegtreffer in der "allerneunzigsten Minute". Wie einst Hany Ramzy hielt es Kevin Kraus nicht mehr hinten und der Verteidiger bugsierte den Ball irgendwie in die Maschen. Auf den Tribünen konnten die vom Aufstieg beseelten und von ihrem Riesen-Rucksack befreiten Menschen ihr Glück kaum fassen. Es war ein Auftakt, der wie Schokolade schmeckte. Das Fritz-Walter-Stadion hätte auch weiter gestrahlt, wenn man das Flutlicht ausgeschaltet hätte.

Der Betze hat nicht nur den FCK-Fans gefehlt

Nach dem Pokalspiel gegen Freiburg schwärmte SC-Trainer Christian Streich nach Spielende in seiner unnachahmlich authentischen Art von der Lautrer Kultstätte: "Es ist immer etwas Besonderes, hier hochzukommen, in diesen Stein da rein. Und dann bauen die diese Kathedrale - das ist der Wahnsinn." Auch andere Protagonisten des deutschen Fußballs äußerten sich zuletzt fast sehnsüchtig über den Betze.

Das Heimspiel gegen St. Pauli eröffnete Boyd mit einem fulminanten Kopfball unter die Latte. Als die Hamburger in der Schlussphase den Anschluss machten, geschah Außergewöhnliches, was man hierzulande in diesem Ausmaß wohl nur auf dem höchstem Fußballberg erleben kann. Die Kiezkicker spielten auf einmal nicht mehr gegen elf Lautrer, sondern gegen fast 40.000, die allesamt auf dem Platz zu stehen schienen. Gegen so eine Übermacht kamen die Sankt Paulianer in fünf Minuten Nachspielzeit nicht ein einziges Mal mehr richtig an den Ball. Mit Händen und Füßen wehrte sich hier ein ganzes Stadion gegen den Ausgleich. Erfolgreich.

Liebe und Hass

Von einer anderen, nicht minder berüchtigten Seite zeigte sich die Pfälzer Fußball-Burg gegen Paderborn. Schiedsrichter Dr. Matthias Jöllenbeck aus Freiburg schlug die geballte Fan-Wut entgegen. Mit Schimpf und Schande wurde er erst über und schließlich vom Platz gejagt. Auf dem Betzenberg ist ein gellendes Pfeifkonzert keine Floskel, die Sportjournalisten gedankenlos in ihren Block notieren. Liebe und Hass liegen dort oben besonders nah zusammen.

Einen "Tinnitus im Auge" holte sich Trainer Schuster nach eigener Aussage beim 4:4 gegen Magdeburg - wegen des Abwehrverhaltens seiner Mannschaft, die Mitte der ersten Hälfte bereits mit 1:3 zurücklag. Es war ein Spiel, das einem schlicht den Atem raubte, und es schmierte die Betze-Maschine mit reichlich Öl. Als Abwehrhüne Boris Tomiak das 2:3 markierte, waren die 35.000 guter Dinge, dass dieses verrückte Spiel noch nicht verloren war. Vor allem, weil der FCK in der zweiten Hälfte auf "Kaiserslauterns berühmteste Kurve" spielte. Und die Anhänger dort hielten noch Bratwurst und Bier in der Hand, als Philipp Hercher zum 3:3 traf. Dann stellte Mike Wunderlich, einer der sichersten Elferschützen im deutschen Profi-Fußball, auf 4:3. Doch das war noch nicht das letzte Tor. "Der Betze kann nicht normal", pflegt Terrence Boyd nach solchen Spielen zu sagen.

Wahnsinnig laut

Und nun Darmstadt! Im Nachklapp zum vergangenen Spiel am Sonntag schreibt die "Frankfurter Rundschau":

"Auf dem Betzenberg kommen die Dinge schnell mal ins Rutschen. Das ist kein geologischer Befund, die Erhebung steht seit Menschengedenken stabil in Kaiserslautern, sondern ein fußballerischer. Die Atmosphäre im Stadion auf dem Betzenberg, der Heimstätte des 1. FC Kaiserslautern, ist bisweilen so mitreißend, dass nichts vor ihr sicher ist. Das wusste der SV Darmstadt 98 natürlich schon vor seinem Auftritt in Kaiserslautern am Sonntag, der 3:3 endete, aber danach wusste er es noch ein bisschen besser."

Ein Lilien-Kommentator des "Darmstädter Echos" fand:

"Was die Zuschauer am Betzenberg vor allem in der Schlussviertelstunde geboten bekamen, war kaum zu überbieten. Der FCK, angestachelt von einem wahnsinnig lauten Betzenberg, überrannte den SV98 förmlich und hatte den Sieg schon vor Augen."

Darmstadt-Trainer Torsten Lieberknecht haderte: "Wir hätten nachsetzen und auf das 3:0 gehen müssen. Denn wenn das 1:2 fällt, dann kommt nicht nur Dirks Mannschaft zurück, sondern das ganze Stadion. Und als Pfälzer weiß ich nur zu gut, wie das ist."

Das Comeback

Lieberknecht ist als Nachwuchsprofi mit dem FCK 1994 Vize-Meister in der Bundesliga geworden. Trainer war damals Friedel Rausch, der zwischen Kalli Feldkamp und Otto Rehhagel amtierte. In diesen goldenen Jahren genügte auf dem Betze nur ein Funke, um "zurückzukommen". Ob es ein Rempler von Gerry Ehrmann beim Abschlag war oder eine Grätsche von Axel Roos. Ein 0:2 war nicht das Ende, es war oft der Anfang.

Auch an diesem Sonntag im September 2022 gab es ein solches Comeback. Und war für eines: Als Trainer Dirk Schuster Mike Wunderlich einwechselte, waren schon 64 Minuten gespielt. Wunderlich war beim FCK bislang unangefochtener Stammspieler und hat trotz seiner 36 Lenze quasi kein Spiel verpasst. In der Relegation in Dresden gewann er den entscheidenden Zweikampf vor dem 1:0.

Dieser Aufstiegsheld machte sich nun gegen Darmstadt zur Eckfahne auf. Dort stand allerdings schon Neuzugang Philipp Klement bereit, der am Sonntag zunächst Wunderlichs angestammten Platz einnahm. Was sich dann zwischen den beiden, vor allem non-verbal abspielte, war ein Schauspiel: Wunderlich schaute so grimmig und wild entschlossen, dass Klement zunächst höflich zur Seite ging und schließlich das Weite suchte. In diesem Moment dachte ich, der Wunderlich kommt hier nicht rein, um 2:0 zu verlieren. Hier geht noch was. Wenige Augenblicke später jubelte der Betze zum ersten Mal, aber das Boyd-Tor zählte wegen Abseits nicht. Doch Darmstadt nützte das nichts mehr: Die Maschine war ins Laufen gekommen. Ein Rädchen griff ins andere. Als Kenny Prince Redondo per Kopf (!) zum 1:2 traf, schien alles möglich. Fortan standen drei volle Tribünen und machten einen Höllen-Lärm. Den folgenden Elfmeterpfiff konnte hier niemand mehr hören, aber die Geste des umsichtigen Schiris war klar. Wunderlich schnappte sich die Pille und verwandelte trocken. Die Jetzt geht’s los-Rufe schallten bis tief in die Südpfalz. Wir waren längst in einem rot-weiß-roten Rausch. Was dann folgte, ja, man braucht eigentlich nicht drumherum reden, war wohl eines der geilsten Tore, was wir jemals in diesem Stadion erlebt haben. Ein Gesamt-Kunstwerk. Boyd (artistisch) - Ritter (traumhaft) - Redondo (per Flugkopfball). Überwältigend. Unvergesslich. Unsterblich. Dass Verteidiger Kevin Kraus den Angriff mit einem gewonnenen Zweikampf eingeleitet hatte und wie ein Wahnsinniger danach mit nach vorne bis in den Strafraum stürmte, ist nicht nur eine Fußnote.

Der Prinz vom Betzenberg

Und Redondo?! Erst schießt er das sensationelle Siegtor beim Derby in Saarbrücken, im beschriebenen Rückspiel am Betze sticht er mit dem 3:1 mitten ins Herz der Blau-Schwarzen. Gegen St. Pauli macht er - natürlich auf die Westkurve, inklusive unwiderstehlichem Solo - das vorentscheidende 2:0. Und jetzt geht er all-in, wirft alles rein, nimmt seinen ganzen Mut zusammen und setzt einen Flugkopfball an. Was hat der Prinz vom Betzenberg hier noch vor? Will er, dass Pfälzer Kinder und Straßen nach ihm benannt werden oder sein Trikot unter dem Dach der Westkurve hängt?

Was Redondos Tor in diesem Stadion ausgelöste, so lese ich es zumindest aus einigen Zitaten raus, muss den ein oder anderen Spieler fast erschrocken haben. Die Reaktion von Trainer Schuster habe ich eingangs beschrieben. Es war ein Vulkanausbruch in 285 Metern Höhe. Alles, was sich nach dem Aufstieg noch nicht aus uns herausgetraut hatte (vor lauter Angst vor einem erneuten Misserfolg), kam jetzt zum Vorschein. Nach der Euphorie im Mai kehrte das Selbstbewusstsein zurück und jetzt die Selbstsicherheit und Gewissheit: Das ist der Betze. Betze is widder do. Und deshalb fühlte sich dieser Jubelschrei so vertraut an.

Der FCK in seiner Lieblingsrolle

Dieser Verein hat sein Selbstverständnis zurückerlangt. Er hat wieder eine Identität. In der Corona-Zeit ist der schwer traumatisierte Patient FCK zur Ruhe gekommen, hat Kraft sammeln und sich von Altlasten befreien können. Demut kehrte in Kaiserslautern ein. Marco Antwerpen brachte dem Club wieder das Siegen bei - impfte ihm Moral, Wille, Kampfgeist ein. Antwerpen hat einen großen Anteil an der Rückkehr des Betze, genauso wie der sportlich Verantwortliche Thomas Hengen, der Antwerpen direkt vor der Relegation entließ, manche sagen, entlassen musste.

Jetzt in der 2. Bundesliga fällt vieles leichter. Der FCK sieht und fühlt sich als Underdog, David gegen Goliath - 34 Mal. Man ist in seiner ureigenen Rolle. Das ist der Schlüssel. Das ist der Weg. Und diesen müssen wir weitergehen, egal, was kommt, egal, was passiert. "Die Freiheit der Pfalz wird am Betzenberg verteidigt", heißt es nicht zu unrecht. Für alle, die mithelfen wollen: Es ist noch Platz im Stadion. Das Betze-Feeling muss man live erleben!

Und eins ist gewiss: Andreas Luthe wird die kommenden Wochen und Monate tapfer sein müssen. "Wir können keine normalen Heimspiele zeigen. Für mein Herz ist das nichts, dafür bin ich zu alt", sagte der FCK-Torhüter nach dem Spiel am Sonntag.

User "Paul" schrieb auf Der Betze brennt dazu passend: "Es gibt mit dem FCK eigentlich kein normales Fußballspiel. Macht das älter oder jünger? Und muss das langweilig sein, wenn man nicht FCK-Fan ist."

Quelle: Der Betze brennt | Autor: Marc Bartl

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